Ukraine:Einfach ausgeschaltet

Lesezeit: 6 min

Beim Abschiedsbesuch in Kiew sagte Angela Merkel im August zu, Deutschland werde mit einer Milliarde Euro beim Aufbau erneuerbarer Energien in der Ukraine helfen. Rechts Präsident Wolodimir Selenskij. (Foto: Ukrainisches Präsidialamt/AP)

Ein kanadischer Unternehmer baut in der Ukraine eine millionenteure Solarstromanlage. Sie wird vom Netz abgehängt - offenbar wollten Oligarchen es so. Politik und Justiz lassen ihn auflaufen: Wie es zugeht in dem Land, in dem Deutschland und die USA alternative Energien fördern wollen.

Von Florian Hassel, Warschau

Solarstrompionier Michael Yurkovich wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte über diese Nachricht: Vier Tage nach dem letzten Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei Präsident Joe Biden im Weißen Haus Mitte Juli verkündeten die deutsche und die US-Regierung, sie würden in der Ukraine alternative Energien mit einem "Grünen Fonds" fördern. Als Erstes zahle Berlin 175 Millionen Dollar in den Fonds ein, der Kiew wohl vor allem die Inbetriebnahme der dort bekämpften Gaspipeline Nord Stream 2 versüßen soll. Insgesamt, bekräftigte Merkel Ende August beim Abschiedsbesuch in Kiew, wolle Deutschland der Ukraine beim Aufbau erneuerbarer Energien "mit einer Milliarde helfen".

Seine eigenen Erfahrungen lassen Unternehmer Yurkovich am Sinn solcher Investitionen zweifeln: Obwohl seine Familie in der Ukraine vielbeachtete Pioniervorhaben verwirklicht hat, die selbst der Präsident pries, ist ihr Vorzeigeprojekt vom Netz getrennt, und Yurkovich muss kämpfen: gegen die ineffiziente, korruptionsumwitterte Justiz und gegen einen berüchtigten Oligarchen, dem der Präsident eng verbunden ist. Selbst intensive diplomatische Bemühungen und Interventionen bei Regierung und Präsident halfen nichts.

Gut vier Jahre ist es her, dass Kanadier und Ukrainer eine neue Ära einleiten wollten mit einem Freihandelsabkommen, es trat im August 2017 in Kraft. Die Yurkovichs waren unter den ersten Investoren am Start, eine kanadische Familie mit ukrainischen und kroatischen Wurzeln. Nach der Maidan-Revolution 2014 hatte die Ukraine beschlossen, erneuerbare Energien mit garantierter staatlicher Abnahme zu attraktiven Tarifen zu fördern und ausländische Investoren anzulocken.

Die Yurkovichs kauften über eine Tochterfirma in der Industriestadt Nikopol, 500 Kilometer südwestlich von Kiew, ein 20 Fußballfelder großes Gelände und bauten dort Solarpaneele auf. Die benachbarte Metallfabrik NFP erlaubte den Anschluss an eine Stromstation auf ihrem Gelände, um die Solarenergie ins Netz einzuspeisen. Anfang 2018 floss so der erste Sonnenstrom.

Der fragliche Oligarch förderte Selenskijs Wahl zum Präsidenten

Ende Mai 2019 wurde der Satiriker und Fernsehproduzent Wolodimir Selenskij neuer Staatspräsident. Sechs Wochen später pries er im kanadischen Toronto bei der "Ukraine Reformkonferenz" seine Pläne, erneuerbare Energien - und die Firma TIU Canada der Yurkovichs. "Wir denken an die Zukunft, deshalb werden grüne Energien in den kommenden Jahren ein Schlüsselbereich unserer Wirtschaft sein. Ich weiß, dass die kanadische Firma TIU Canada schon mit Erfolg in dem Sektor arbeitet", sagte Selenskij und rief seinem Publikum - 800 potenziellen Investoren, Finanziers und Regierungsvertretern aus 37 Ländern - zu: "Folgen Sie ihrem Beispiel!"

Kein halbes Jahr nach dem präsidialen Ritterschlag bekam die Vertreterin der Yurkovichs überraschende Post: Die Metallfirma NFP kündigte an, sie müsse "für Reparaturen" die Stromstation vom Netz trennen, die den Solarstrom der Yurkovichs ins ukrainische Netz einspeiste. Grundlage sei eine fast fünf Jahre alte Anordnung zur technischen Prüfung.

Michael Yurkovich war verblüfft: Von notwendigen Reparaturen war zuvor nie die Rede. Der Metallfabrik-Direktor riet ihm, mit einem der Fabrikbesitzer zu sprechen: Mit Ihor Kolomoiskij, 58, Milliardär mit Unternehmen von Fluglinien über Finanzfirmen und Fernsehsender bis zu Energie- und Industriebetrieben.

Der Oligarch Kolomoiskij ist einer der Männer, die in der Ukraine nicht nur in der Wirtschaft, sondern oft auch in der Politik bestimmen. Sein Ruf ist schillernd: Ihm gehörte mit einem Partner früher die Privat Bank. Kolomoiskij soll sie mit anderen um gut fünf Milliarden Dollar erleichtert haben über ungesicherte Kredite an Tarnfirmen im Ausland. Sie sollen die Privat Bank beim "größten Finanzbetrug des 21. Jahrhunderts" (Ex-Nationalbankchefin Waleria Gontarewa) so gründlich geplündert haben, dass die Bank Ende 2016 verstaatlicht werden musste.

Auf einer Sanktionsliste der USA und angeklagt in mehreren Ländern: Der ukrainische Oligarch Ihor Kolomoiskij, dem Präsident Selenskij nahesteht. (Foto: Valentyn Ogirenko/VIA REUTERS)

US-Außenminister Antony Blinken setzte Kolomoiskij am 5. März wegen "bedeutender Korruption" und "Unterminierung des Rechtsstaates" in der Ukraine auf eine Sanktionsliste. Gegen Kolomoiskij und seine Partner laufen Gerichtsverfahren in Großbritannien und den USA; Klagen sind in der Schweiz, Israel und Zypern anhängig. Kolomoiskij bestreitet die Vorwürfe; in London freilich gaben er und ein Geschäftspartner vor einem Richter zu, dass "gegen sie ein plausibler Fall von Betrug in epischem Ausmaß" vorliege.

In der Ukraine blieb die Justiz weitgehend passiv. Das setzte sich fort, nachdem Kolomoiskij 2019 sein erfolgreichster politischer Schachzug gelang: Sein Fernsehsender 1+1 förderte Selenskijs Kandidatur, ein Anwalt Kolomoiskijs saß im Wahlkampfteam - und Selenskij wurde Präsident.

"Wildwestmethoden" zur Übernahme von Firmen, korrupte Staatsanwälte und Richter

Ihor Kolomoiskij lädt Yurkovich am 6. Februar 2020 zu einem Treffen in Kiew, der Solarstrom-Manager schildert es so: "Er sagte mir: Ich werde euch vom Netz trennen. Ich antwortete: Das ist bedauerlich. Er fragte: Würden Sie die Solarstromanlage verkaufen? Ich antwortete: Wenn Sie uns einen fairen Preis nennen, werden wir zuhören." Das Treffen habe kaum fünf Minuten gedauert. "Wir haben danach nichts mehr von Kolomoiskij gehört; er hat nie ein Angebot gemacht oder auf von uns eingeschaltete Vermittler reagiert", sagt Michael Yurkovich.

Vier Wochen nach dem Treffen in Kiew wird die Solarstromanlage am 2. März 2020 über die Stromstation der Kolomoiskij-Fabrik vom Netz getrennt. Das widerspricht Yurkovich zufolge etlichen ukrainischen Gesetzen, nötige staatliche Genehmigungen fehlten. Das ist eineinhalb Jahre her. "Bis heute sind wir nicht wieder angeschlossen worden, bis heute haben wir weder eine der angeblich notwendigen Reparaturen noch sonst Arbeiten an der Stromstation gesehen. Dafür haben wir Millionen verloren." Es sei "ein klassischer Raider-Angriff, bei dem ein Oligarch versucht, mit Wildwestmethoden ein Unternehmen zu kapern", sagt Yurkovich. Ukrainischen Berichten zufolge ist Kolomoiskij auch im Stromgeschäft stark engagiert. Anfragen der SZ ließ er unbeantwortet.

Auch andere Investoren haben in der Ukraine massive Probleme. "Raider-Angriffe", die gewaltsamen Firmenübernahmen, sind nicht selten. Zudem setzt mitunter der Geheimdienst SBU Unternehmer unter Druck, der in der Wirtschaft über weitgehende Vollmachten verfügt. 1690 gesetzwidrige Angriffe auf Firmen registrierte die Generalstaatsanwaltschaft von 2013 bis 2018, Tendenz: von Jahr zu Jahr steigend. Von der Kyiv Post befragten Experten zufolge ist das nur die Spitze des Eisbergs. Anwälte schätzen, es gebe in der Ukraine pro Jahr bis zu 7000 ungesetzliche Übernahmeangriffe. Viele sind vor allem erfolgreich, weil viele Staatsorgane unreformiert und korrupt sind - besonders die Justiz. Korrupte Staatsanwälte und Richter bis zum Verfassungsgericht machen Schlagzeilen. Urteile werden gekauft, kaum eine Raider-Übernahme wird vor Gericht rückgängig gemacht.

Für die Yurkovichs beginnt ein juristischer Spießrutenlauf. Fast ein Jahr dauert es, bis sich das Kiewer Wirtschaftsgericht ihrer Klage annimmt. Dann braucht der Richter Ende Januar 2021 keine fünf Minuten, um rund 2000 Seiten Dokumente und Gutachten der Yurkovichs für unwesentlich zu erklären und ihre Klage auf Wiederanschluss ans Stromnetz abzuweisen. Die Yurkovichs gehen in Berufung. Doch Verhandlungen werden vertagt, Fristen überzogen, Richter treten vom Fall zurück. Am 2. November lehnt das Kiewer Berufungsgericht eine Berufung von TIU Canada ab - und hebt das Urteil der ersten Instanz auf: Die Yurkovichs müssen ihren Kampf vor Gericht ein zweites Mal von vorne aufnehmen.

Selbst Kanadas Regierung intervenierte - ergebnislos

Nicht nur Gerichte blieben im Fall der Solarstrompioniere untätig. Anfang März 2021 schrieb Yurkovichs Vertreterin unter anderem an Energieregulatoren, das Anti-Monopol-Komitee, vier Ministerien und den Ministerpräsidenten. Die Eingaben blieben so erfolglos wie eine Intervention der kanadischen Botschaft. "Von den Behörden und Ministerien bekamen wir keine Antwort, was besorgniserregend war", sagt Yurkovich. "Daraufhin trafen wir Parlamentarier und Vertreter der Präsidialverwaltung. Mehrere Gesprächspartner bestätigten, dass unsere Trennung vom Stromnetz illegal sei - aber keiner tat etwas, um uns wieder anzuschließen."

Der Einfluss des Oligarchen Kolomoiskij ist zurückgegangen, doch weiter riesig. Ihm sollen Dutzende Parlamentsabgeordnete nahestehen, über die er Gesetze durchsetzt oder verhindert. Und Wolodimir Selenskij? Den auch in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten "Pandora Papers" zufolge erhielten Selenskij und sein Umfeld vor seiner Wahl über ausländische Briefkastenfirmen Dutzende Millionen von Kolomoiskij. Als Präsident nahm Selenskij dazu keine Stellung.

Gut zwei Jahre nach der Wahl sind seine Umfragewerte deutlich gesunken. Der Präsident beschwört oft den angeblich anstehenden Kampf gegen die den meisten Ukrainern verhassten Oligarchen. Am 23. September beschloss das Parlament publikumswirksam, ein "Oligarchenregister" einzuführen. Konkrete Schritte aber fehlen. Dafür feuerte Selenskij seinen ersten Ministerpräsidenten und den Generalstaatsanwalt, der entschlossen war, gegen Kolomoiskij durchzugreifen. Zur Privat-Bank-Affäre gibt es keinen Untersuchungsausschuss. Und die Generalstaatsanwaltschaft, nun geführt von einer früheren Wahlkampfjuristin Selenskijs, hat nach fast sechs Jahre keine Anklage zum größten Finanzskandal der unabhängigen Ukraine erhoben.

Im Juni schrieb Yurkovichs Firma Ekotechnik Nikopol an Präsident Selenskij. In dem Brief - er liegt der SZ in Kopie vor - schilderte die Firma den Fall detailliert. Sie forderte den Präsidenten zu weitgehenden Sanktionen gegen die Kolomoiskij und weiteren Oligarchen gehörende Metallfabrik NFP auf, die seine Firma vom Stromnetz trennte. "Auch dieser Brief blieb ohne Antwort", sagt Yurkovich. Interventionen der Regierung Kanadas bei Präsident Selenskij - Yurkovich zufolge ging der Fall bis zu Premier Justin Trudeau - seien ebenso ergebnislos geblieben. Kanadas Regierung teilte auf Anfrage mit, sie kommentiere "interstaatliche Kommunikation nicht". Die Sprecher von Präsident Selenskij und Ministerpräsident Denis Schmihal reagierten nicht auf Anfragen der SZ.

Seine Firma habe durch die illegale Trennung vom Netz Millionen Dollar verloren, "die Ukraine redet viel darüber, dass sie Oligarchen bekämpfen und Investoren schützen will", sagt Yurkovich: "Aber die Aktionen der Gerichte und die Tatenlosigkeit der Regierung sprechen lauter als die Worte des Präsidenten. Wenn ein ausländischer Investor, der über Jahre Dutzende Millionen Dollar investiert und alle Gesetze befolgt hat, willkürlich und straflos von einem staatlich unterstützten Oligarchen attackiert werden kann, zeigt dies, dass die Ukraine kein Rechtsstaat ist."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: