Ukraine:Ein Befehlshaber für den Präsidenten

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Generaloberst Oleksandr Syrskyj (r.) mit Präsident Selenskij (M.) Ende November in Kupjansk, wenige Kilometer von der Front entfernt. (Foto: Pressebüro des ukrainischen Präsidenten/AFP)

Generaloberst Oleksandr Syrskyj steht für große militärische Erfolge, aber auch umstrittene Entscheidungen. Will sich Präsident Selenskij mit seiner Beförderung zum Armeechef mehr Einfluss auf das Militär sichern?

Von Sebastian Gierke

Zurückhaltend, gefasst, fast schüchtern wirkte Oleksandr Syrskyj im Moment eines seiner größten Erfolge als Soldat. Am 10. September 2022 ließ der Generaloberst die ukrainische Flagge in Balakija hissen. "Heute befreien wir die erste große Stadt in unserer Offensive", sagte er damals. "Sie wird nicht die letzte sein."

Syrskyj sollte damit recht behalten. Die ukrainischen Streitkräfte konnten im Herbst 2022 innerhalb weniger Tage Hunderte Quadratkilometer ihres Landes von den russischen Besatzern zurückerobern, vertrieben sie aus dem Bezirk Charkiw im Nordosten der Ukraine, auch aus größeren Städten wie Balakija, Isjum oder Kupjansk.

Es war Syr skyj, der jetzt von Präsident Wolodimir Selenskij zum neuen Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte gemacht wurde, der den listenreichen Plan für diese Offensive in der Hauptsache entworfen hatte. Syrskyj setzte auf die Überrumpelung des Gegners, auf einen schnellen Vorstoß. Und weil er schon vorher bei der Verteidigung von Kiew viel Verantwortung übernommen hatte, gilt er vielen seiner Landsleute als Held - und als militärisches Genie.

Nach der Charkiw-Offensive hat Syrskyj einige zweifelhafte Entscheidungen getroffen

Trotzdem tritt Syrskyj, der bereits nach der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 jahrelang die Militäroperation im Osten des Landes leitete, ein schweres Erbe an. Und das nicht nur, weil der bisherige Oberkommandierende der Ukraine, General Walerij Saluschnyj, seinen Nachfolger an Beliebtheit und Ruhm noch übertrifft.

Nach der erfolgreichen Charkiw-Offensive hat Syrskyjs Ruf jedenfalls gelitten. Als verantwortlicher Kommandeur für die Bodentruppen traf er einige zweifelhafte Entscheidungen. Die wohl folgenreichste: Unter Syrskyj verteidigte die Ukraine die Stadt Bachmut lange, viele Beobachter glauben: zu lange.

Bis zum Rückzug im Mai 2023 waren die ukrainischen Verluste in der für einen Abwehrkampf ungünstig gelegenen Stadt immens. Auch Soldaten, die in Bachmut kämpften, kritisierten damals ihren Kommandeur. Syrskyj behauptet jedoch bis heute, die Verluste, die man dem Feind bei Bachmut zufügen konnte, hätten seine Strategie gerechtfertigt. Zu klären, wer recht hat, bleibt wohl den Historikern überlassen.

Doch nicht nur an seinem Vorgehen bei Bachmut gibt es Zweifel. Einige Male wurde Syrskyj vorgeworfen, taktische Erfolge zu erzwingen, die viele Soldaten das Leben kosten, aber keine operativen und strategischen Fortschritte bringen. Aus der Ukraine ist außerdem immer wieder Unmut über Syrskyjs Führungsstil zu hören. Ein ukrainischer Reservist und Militärblogger, der unter dem Pseudonym "Tatarigami UA" regelmäßig und informiert das Kriegsgeschehen kommentiert, schreibt beispielsweise auf X, Syrskyj werde "innerhalb der Armee weithin missachtet", wesentliche Verbesserungen seien unter ihm "unwahrscheinlich".

An der militärischen Situation wird auch Syrskyj nicht so schnell etwas ändern können

Und der Blogger ist mit der Kritik bei Weitem nicht allein. Wie groß der Unmut innerhalb der Streitkräfte tatsächlich ist, lässt sich von außen nicht beurteilen. Möglich, dass sich kritische Stimmen in der Vergangenheit besonders laut Gehör verschafft haben. Doch klar ist: So unumstritten wie Saluschnyj ist der medienscheue Syrskyj, ein gebürtiger Russe, bei den Soldaten eindeutig nicht.

Da hilft es auch nicht, dass der 58-Jährige als enger Vertrauter von Präsident Selenskij gilt. Eher im Gegenteil. So war beispielsweise oft zu hören, die Entscheidung, Bachmut so lange wie irgend möglich zu verteidigen, habe eigentlich der Präsident getroffen. Syrskyj habe sie nur ausgeführt. Und so vermuten nicht nur Beobachter in Kiew, dass sich Selenskij mit der Beförderung Syrskyjs zum Oberkommandierenden zuvorderst mehr Einfluss auf militärische Entscheidungen sichern will.

So viel Widerspruch, wie Saluschnyj ihn seinem Präsidenten gegenüber in der Vergangenheit äußerte, wird Selenskij jedenfalls von Syrskyj nicht zu hören bekommen. Und auch strategisch steht der oft ungeduldige Selenskij eher Syrskyj nahe, als dem lange vorausblickenden, die Lage nüchtern und realistisch einschätzenden Saluschnyj, der nie bereit war, für schnelle, aber wenig nachhaltige Erfolge, große Risiken einzugehen.

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Welche neuen Impulse - solche hat Selenskij bei der Absetzung Saluschnyjs angekündigt - Syrskyj setzen wird, bleibt abzuwarten. Unbestritten verfügt er über viel Erfahrung und auch operatives Geschick. Doch an der aktuellen Situation wird Syrskyj nicht so schnell etwas ändern können.

Die ukrainischen Soldaten an der Front sind erschöpft, vor einer neuen großen Mobilisierung ist der Präsident bislang zurückgeschreckt. Es mangelt an Munition vor allem für die Artillerie, und Russland hat große Vorteile bei den so wichtigen Drohnen und der elektronischen Kriegsführung. Mit großer Mühe und unter großen Verlusten gelingt es der ukrainischen Armee aktuell, größere russische Durchbrüche zu verhindern. Die Zeit, in der sich der Feind überrumpeln ließ, die ist in diesem Krieg jedenfalls vorbei. Syrskyj steht vor einer gewaltigen Aufgabe. Ein wichtiger Teil wird sein, die Moral seiner Soldaten hochzuhalten.

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