Krieg in der Ukraine:Terror aus der Luft

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Sanitäter versorgen einen Einwohner der Stadt Charkiw nach dem russischen Raketenangriff. (Foto: Sofiia Gatilova/Reuters)

Nach russischen Luftangriffen auf ukrainische Städte sind viele Tote und Verletzte zu beklagen. Lässt wegen fehlender Hilfen aus dem Westen bereits jetzt die Flugabwehr nach?

Von Nicolas Freund

Kiew, Charkiw und andere Orte in der Ukraine sind am frühen Dienstagmorgen schwer von Luftangriffen der russischen Armee getroffen worden. Bilder und Videos zeigen ein Wohnhaus in Charkiw, das teilweise eingestürzt ist. Auch in der Hauptstadt Kiew sind mehrere Wohngebäude teils schwer beschädigt worden. Bewohner posteten in sozialen Netzwerken Bilder von zersplitterten Scheiben und beschädigten Autos. Viele Menschen mussten sich wieder in der U-Bahn oder in Luftschutzbunkern in Sicherheit bringen.

Wieder mussten sich in Kiew viele Menschen vor den Luftangriffen in der U-Bahn in Sicherheit bringen. (Foto: Thomas Peter/Reuters)

Die genauen Opferzahlen waren zunächst noch unklar. Laut ersten Angaben ukrainischer Behörden sind bei den Angriffen mindestens sechs Menschen getötet und mehr als 50 verletzt worden. Die Zahlen könnten im Laufe der Bergungsarbeiten noch steigen. Sicher ist: Der Angriff hätte leicht noch mehr Menschen töten und verletzen können. In Kiew traf eine der russischen Raketen einen Apartmentblock, der Sprengkopf detonierte aber nicht.

In Kiew wird der nicht explodierte Sprengkopf einer russischen Rakete abtransportiert. (Foto: Efrem Lukatsky/AP)

Diese Angriffe auf zivile Ziele wirken besonders zynisch, weil der russische Außenminister Sergej Lawrow gerade erst vor dem UN-Sicherheitsrat in New York seinerseits die ukrainische Armee beschuldigt hatte, einen Markt in der von Russland besetzten Stadt Donezk beschossen zu haben. Die Ukraine und andere Länder, darunter Deutschland, warfen Lawrow vor, mit solchen Anschuldigungen vor dem UN-Gremium nur von dem eigenen Vorgehen in der Ukraine ablenken zu wollen.

Fast die Hälfte der Raketen konnte die ukrainische Luftabwehr durchdringen

Laut der ukrainischen Luftwaffe sind bei den Angriffen am Dienstagmorgen insgesamt 41 Raketen unterschiedlichen Typs von verschiedenen Orten in Russland aus auf die Ukraine abgefeuert worden, 21 davon seien abgefangen worden. Es ist unklar, warum damit fast die Hälfte der Raketen die ukrainische Luftverteidigung durchdringen konnte, auch in Kiew. Die Hauptstadt gilt eigentlich als inzwischen sehr gut vor russischen Luftangriffen geschützt. Ein Grund könnte sein, dass der ukrainischen Armee schlicht die teure Munition für Luftabwehrsysteme wie Patriot oder Iris-T ausgeht. Vor diesem Szenario war im Kontext der derzeit ausgelaufenen Hilfen aus den USA und schleppender Unterstützung anderer Staaten immer wieder gewarnt worden. Dazu würde auch passen, dass gleich nach den Angriffen Bridget Brink, die amerikanische Botschafterin in der Ukraine, sofortige Unterstützung für das Land forderte.

Wahrscheinlich hat aber auch die russische Armee inzwischen Wege gefunden, die ukrainische Flugabwehr zu überfordern und zu umgehen. Dafür würde der Einsatz von mindestens fünf verschiedenen Raketentypen sprechen. Eine anfliegende Rakete abzufangen ist immer kompliziert, eine große Zahl verschiedener Typen aus unterschiedlichen Richtungen macht es noch schwieriger.

Ein weiterer Faktor könnte sein, dass die ukrainische Armee wohl Teile ihrer Flugabwehr ans Schwarze Meer verlegt hat. Dort sind zumindest in jüngster Zeit gleich mehrere Flugzeuge der russischen Armee abgeschossen worden. Wenn das der Fall sein sollte, fehlen diese Teile der Flugabwehr aber natürlich an anderen Orten, denn die ukrainische Armee verfügt nicht über genug Systeme, um alle Städte und Frontabschnitten gleichzeitig zu schützen. Solche völkerrechtswidrigen Angriffe der russischen Armee auf zivile Ziele wie vom Dienstagmorgen sollen deshalb auch Druck auf die ukrainischen Streitkräfte ausüben, die Städte besser zu schützen und Flugabwehr von der Front abzuziehen.

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Dort haben laut der ukrainischen Armee die russischen Angriffe vor allem im Nordosten stark zugenommen. Experten erwarten seit Wochen in der Region Charkiw einen größeren Angriff der russischen Armee. Auch um die Stadt Awdijiwka im Süden werde aber weiter heftig gekämpft. Trotz Erfolgen wie der abgeschossenen russischen Flugzeuge sind die ukrainischen Streitkräfte an der Front derzeit in der Defensive, es fehlt weiterhin an Munition, vor allem für die Artillerie. Da hilft es auch wenig, dass die Nato am Dienstag mitteilte, mit Unternehmen in Deutschland und Frankreich Verträge über die Lieferung von Artilleriemunition im Wert von 1,1 Milliarden Euro abgeschlossen zu haben, die auch für die anhaltende Unterstützung der Ukraine genutzt werden sollen. Denn mit der ersten Lieferung wird in zwei Jahren gerechnet.

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