Ukrainekrieg:Grundrecht auf Fahnenflucht?

Lesezeit: 3 min

Nicht alle ukrainischen Männern wollen so entschieden für ihr Land kämpfen. (Foto: Libkos/dpa)

Fast 200 000 Ukrainer im wehrfähigen Alter harren in Deutschland aus, obwohl ihre Regierung sie dringend zur Rückkehr auffordert. Das deutsche Ausländerrecht überlässt die Entscheidung letztlich Berlin.

Von Ronen Steinke, Berlin

In Deutschland leben laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge derzeit fast 200 000 ukrainische Männer im sogenannten wehrfähigen Alter, das heißt zwischen 18 und 60 Jahren. In der EU insgesamt sollen sich laut Daten von Eurostat etwa 650 000 Männer aus der Ukraine in diesem Alter aufhalten. Je stärker die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen die russischen Invasoren in Bedrängnis gerät, desto häufiger werden derzeit die Rufe aus Kiew an diese Männer, sie sollten in ihre Heimat zurückkehren. Und auch für Deutschland als Gastgeber stellen sich Fragen. Nach ukrainischem Recht hätten einige der Männer ihr Land gar nicht verlassen dürfen. Was besagen deutsches und internationales Recht? Hier einige Antworten.

Wenn Kiew seine Bürger zurückruft, muss Deutschland diese dann ausliefern?

Nein. Von Müssen kann keine Rede sein. Der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umjerow mag zwar an seine geflüchteten Landsleute appellieren, sich in den Rekrutierungszentren der ukrainischen Streitkräfte zu melden. So hat er es vor wenigen Tagen in einem Interview in der Bild-Zeitung getan. Wobei er nach einiger politischer Aufregung hinterher klargestellt hat, dass dies bloß eine "Einladung" an seine geflüchteten Landsleute sei - und dass nicht etwa Zwangsmaßnahmen oder Strafen drohten. Der deutsche Staat muss sich davon aber - jedenfalls rechtlich - nicht unbedingt beeindrucken lassen.

Deutschland und die Ukraine sind zwei souveräne Staaten - und eine Pflicht zur Auslieferung besteht nach dem maßgeblichen europäischen Auslieferungsübereinkommen ausdrücklich nicht. Denn nach Artikel 4 dieses Abkommens ist eine Auslieferung wegen Delikten, die ausschließlich in der Verletzung militärischer Pflichten bestehen, ausgeschlossen. Das gilt auch für "Fahnenflucht" und "Dienstentziehung durch Täuschung", zwei Delikte, die sich grundsätzlich auch im deutschen Wehrstrafgesetz finden, in den Paragrafen 16 und 18. Es ist auch unklar, wie viele der 200 000 Männer überhaupt wehrtauglich sind.

Ist Deutschland verpflichtet, diesen Männern Asyl zu gewähren?

Auch hier lautet die Antwort Nein. Deutschland ist weder in die eine noch in die andere Richtung verpflichtet. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages haben sich kürzlich mit diesem Thema befasst, und sie haben ein altes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 1981 gefunden, wonach der Grundgesetz-Satz "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" nicht auch Menschen mit einschließe, die sich nur einem Wehrdienst im Ausland entziehen wollen. Bloße Kriegsdienstverweigerung ist noch kein Asylgrund.

Aktuell gewährt Deutschland den Ukrainern freiwillig ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie der EU. Es wäre aber möglich, das jederzeit auch wieder zu beenden, auch selektiv, also nur für bestimmte Gruppen von Ukrainern. Die Entscheidung liegt beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beziehungsweise - übergeordnet - bei der Bundesregierung in Berlin.

Können sich Ukrainer auf das Grundrecht zur Kriegsdienstverweigerung berufen?

Wieder: Nein. Dieses Grundrecht wird in Deutschland zwar großgeschrieben, es steht als Bestandteil der Glaubens- und Gewissensfreiheit in Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes: "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz." Einige engagierte Juristen wie der Hannoveraner Ausländerrechtsanwalt Peter Fahlbusch plädieren dafür, dass die internationale Solidarität so weit reichen sollte, dass Deutschland auch allen Ausländern eine Verweigerung aus Gewissensgründen ermöglichen sollte. Schließlich gehe es um die Menschenwürde. Aber die Gerichte winken ab.

Mehrere Oberverwaltungsgerichte haben in den 2000er-Jahren klargestellt, dass eine Abschiebung aus Deutschland nicht gestoppt werden muss, nur weil sich ein Ausländer auf den Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes beruft. Wenn jemandem Folter oder unmenschliche Behandlung droht - sicher, dann ist das ein Asylgrund. Wenn jemandem aber bloß ein Wehrdienst gegen sein Gewissen droht, dann nicht. Das Recht ist hier kühl: Als ein US-Soldat namens André Shepherd, der wegen des Irakkriegs desertiert war, in Deutschland Asyl beantragte, winkte sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte letztlich ab: Selbst bei einer völkerrechtlich so gut nachvollziehbaren Gewissensentscheidung sei Deutschland nicht in der Pflicht, Asyl zu geben.

Ist das nicht eine sonderbare Haltung: Deutschland liefert Panzer und Haubitzen an die Ukraine, will aber andererseits nicht helfen, den Ukrainern zunächst einmal ihre eigenen wehrpflichtigen Leute zurückzuschicken?

Es wirkt widersprüchlich, ja - zumindest so lange, bis man sich vor Augen führt, in welchem Verhältnis Deutschland zum russisch-ukrainischen Krieg steht. Deutschland ist nicht Kriegspartei. Deutschland hilft der Ukraine, indem es Waffen und humanitäre Güter schickt. Nicht, indem es selbst Gewalt anwendet. Das ist rechtlich ein entscheidender Unterschied.

Wenn Deutschland nun beginnen würde, an die 200 000 ukrainische Männer abzuschieben, wäre dazu sehr viel Zwang nötig. Sehr viele Festnahmen, sehr viele Haftplätze. Die Vorgaben, wer zurückgeschoben werden soll und wer nicht, würden dabei letztlich vom ukrainischen Verteidigungsministerium kommen - und Deutschlands Polizei sich als dessen verlängerter Arm betätigen. Das wäre ein ungewöhnlich hohes Maß an "Solidarität". Es wäre eine Einmischung in die ukrainische Innenpolitik, wie sie international jedenfalls sehr unüblich ist.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusUkraine-Krieg
:Kurzes Aufatmen in Kiew

Der Ukraine gelingt ein Schlag gegen die russische Schwarzmeerflotte und sie nutzt wohl US-"Patriot"-Raketen, um Flugzeuge und Hubschrauber abzuschießen. Doch im Osten des Landes greifen die Russen weiter an.

Von Florian Hassel

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: