Krieg in der Ukraine:Ukraine hält Brückenkopf jenseits des Dnjepr

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Ukrainische Soldaten mit einem Schlauchboot am Ufer des Dnjepr. (Foto: Mstyslav Chernov/DPA)

Bei Cherson hat die ukrainische Armee den Fluss überwunden, der die Front bildet - und die russischen Streitkräfte angeblich mehrere Kilometer zurückgedrängt. Ist die Gegenoffensive doch nicht ganz gescheitert?

Von Nicolas Freund

Die ukrainische Armee benötigt ganz dringend Erfolge. Die so wichtige Gegenoffensive gilt als gescheitert. Sie ist in den riesigen Minenfeldern der russischen Streitkräfte stecken geblieben. Bei der Frontstadt Awdijiwka ist die russische Armee wieder zum Gegenangriff übergegangen - bislang zwar ebenfalls erfolglos, aber die Lage für die ukrainischen Verteidiger ist schwierig.

In dieser Woche hat es in Teilen der Ukraine zudem geschneit, russische Drohnen greifen wieder gezielt die Energieinfrastruktur des Landes an. Der ukrainischen Bevölkerung steht ein kalter Winter voller Unsicherheiten bevor. Denn auch die internationale Aufmerksamkeit und Unterstützung lässt nach. Die versprochenen Milliarden aus Deutschland sind vorerst im Haushaltsloch der Bundesregierung verschwunden, und wann dringend benötigte Artilleriegranaten geliefert werden, ist unklar - vielleicht kommen sie auch gar nicht.

Soldaten auf Schnellbooten im Gegenlicht - martialische Bilder sollen Erfolge vermitteln

In diesem Kontext muss man die Bilder, Videos und Meldungen sehen, die ukrainische Politiker gerade von der kleinen Offensive am von Russland besetzen Ufer des Dnjepr verbreiten. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij postete schon am 17. November auf Telegram martialische Aufnahmen, die angeblich ukrainische Streitkräfte am südöstlichen Ufer bei Cherson zeigen: Soldaten auf Schnellbooten im Gegenlicht und beim ferngesteuerten Drohnenflug mit VR-Brille.

Auf X veröffentlichte Oleksandr Schtscherba, der ehemalige ukrainische Botschafter in Österreich, ein Video, das die Befreiung eines Dorfes durch ukrainische Soldaten zeigen soll. Erleichterte Bewohner schütteln Hände und fallen ihren Befreiern um die Hälse.

Inzwischen überqueren ukrainische Truppen regelmäßig den Strom bei Cherson. (Foto: Felipe Dana/DPA)

Solche Bilder braucht die Ukraine. Zum einen, um dem Westen zu demonstrieren, dass die Militärhilfen nicht einfach irgendwo versickern. Zum anderen, um der eigenen Bevölkerung das Gefühl zu geben, man habe in diesem Krieg noch die Oberhand, auch wenn es gerade nicht an allen Frontabschnitten danach aussieht. Das ist aber nur der eine Aspekt des Vorstoßes bei Cherson.

Inzwischen wird jeden Tag deutlicher, dass diese Operation nicht nur Propagandazwecken dient. Kleine Vorstöße ukrainischer Truppen über den Dnjepr hat es in den vergangenen Monaten immer wieder gegeben. Inzwischen sollen sie aber bei dem Dorf Krynky einen Brückenkopf errichtet haben, wie nun auch der britische Geheimdienst bestätigt hat, der in solchen Dingen in der Regel gut informiert ist.

Auch das russische Verteidigungsministerium nimmt die Situation offenbar ernst

Auch russische Militärblogger bestätigten die anhaltende Präsenz der ukrainischen Truppen bei Krynky, an der teilweise zerstörten Antoniwka-Brücke und anderen Orten, manche davon mehrere Kilometer vom Fluss entfernt.

Über mehrere Wochen hat die ukrainische Armee ihre Präsenz an dem besetzten Ufer ausgebaut. Inzwischen sollen Hunderte Soldaten und auch gepanzerte Fahrzeuge sowie leichte Artillerie im Einsatz sein. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schojgu verkündete am Dienstag, alle Angriffe der ukrainischen Armee seien erfolglos, das ukrainische Marinekorps und Spezialeinheiten hätten "enorme Verluste" erlitten. Übersetzt bedeuten solche Superlative der russischen Propaganda meist genau das Gegenteil: Gerade diese Betonung der Lage bei Cherson noch dazu am Anfang der Rede spricht dafür, dass man die Situation im russischen Verteidigungsministerium sehr ernst nimmt.

Der ukrainische Brückenkopf ist damit jetzt schon zumindest ein kleiner Erfolg für die ukrainische Armee, weil Kräfte der russischen Streitkräfte gebunden werden, die an anderen Teilen der Front benötigt werden. Zudem kann die Stadt Cherson nicht mehr so leicht von russischen Truppen über den Fluss mit Mörsern beschossen werden.

Der britische Geheimdienst teilte am Mittwoch mit, in dem unübersichtlichen, bewaldeten Gelände fänden derzeit vorwiegend Gefechte zwischen Infanterie und Artillerie statt. Die ukrainische Armee setze außerdem sehr effektiv Drohnen ein, während sich die russischen Streitkräfte auf Luftangriffe verließen. Es sieht also so aus, als hätte die russische Armee bereits die Kontrolle über einen Teil des eigentlich besetzten Territoriums verloren.

Die Rückeroberung großer Gebiete wie im vergangenen Jahr bleibt unwahrscheinlich

Ein großer Vorstoß der ukrainischen Armee in diesem Gebiet wäre ein immenser Erfolg. Nicht nur würde die Bedrohung der Stadt Cherson durch russischen Beschuss gemindert. Auch würde die ukrainische Armee weiter an die besetzte Halbinsel Krim heranrücken, deren Befreiung ein erklärtes Ziel Kiews ist. Die Lage ist dafür eigentlich sehr günstig: Die russischen Verteidigungslinien sind an diesem Frontabschnitt nicht so stark ausgebaut wie an anderen Orten, und durch die Überschwemmungen nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Sommer sind Teile der Minenfelder weggespült worden.

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Nur ist ein größerer ukrainischer Angriff in dieser Gegend derzeit trotzdem unwahrscheinlich: Noch immer ist die russische Flugabwehr ein großes Problem, und Truppenansammlungen sind ein verletzliches Ziel für Angriffe mit Drohnen und Raketen.

Dazu ist es sehr schwierig und gefährlich, Panzer und andere Fahrzeuge in großer Zahl über den Fluss zu transportieren, der an diesen Stellen mehrere Hundert Meter breit ist. Die russische Armee hat im vergangenen Jahr bei ähnlichen Manövern hohe Verluste erlitten. Die Rückeroberung großer Gebiete, wie sie ukrainischen Truppen im vergangenen Jahr gelang, ist weiterhin unwahrscheinlich.

Einen wichtigen Punkt hat die ukrainische Armee mit der Errichtung des Brückenkopfs aber erreicht: den Ukrainern und dem Rest der Welt zu beweisen, dass der Krieg trotz der gescheiterten Gegenoffensive nicht verloren ist.

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