Türkei nach dem Putschversuch:Das türkische Volk als Geisel

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Ein Jahr nach dem Putschversuch liegt die türkische Demokratie in Scherben. Staatspräsident Erdoğan macht den Westen für jedes Übel verantwortlich, das sein Land trifft. Doch dem nationalen Rausch wird Ernüchterung folgen.

Kommentar von Christiane Schlötzer

Die Türkei - was für ein Land wäre das heute, wenn die Putschisten vor einem Jahr gesiegt hätten? Ein Land im Chaos, regiert von einer Militärjunta, mit leeren Staatskassen und vollen Gefängnissen, aus der Nato wäre die Türkei vermutlich auch geflogen. Womöglich wäre das Putschistenregime aber auch längst zerbrochen, schließlich einte die Juli-Verschwörer - nach allem, was man bisher weiß - nur ihr Hass auf einen Mann und seine Macht: auf Recep Tayyip Erdoğan.

Die Spekulationen sind müßig. Der Coup war von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Nicht nur weil sich die Aufständischen so dämlich angestellt haben, sondern - und dies war entscheidend - weil eine Mehrheit der Türken schon aus bitterer Erfahrung wusste, was folgt, wenn das Militär die Macht übernimmt: Folter, Gefängnis, Tod. Deshalb stellten sich so viele an einem hochsommerlichen Freitagabend, wo man in Istanbul entweder Party macht oder mit der Familie chillt, auf einer Bosporusbrücke den Panzern entgegen, 249 Menschen bezahlten ihren Mut mit dem Leben. Von denen, die alles riskierten, riefen viele "Allah ist groß" und "Erdoğan ist unser Führer". Andere aber priesen nicht Erdoğan, sondern die Republik, weil sie in Putschisten, die das Parlament bombardierten, keine Retter der Demokratie sahen.

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Nie war es einfacher, einen unliebsamen Nachbarn loszuwerden

Und nun, was für ein Land ist die Türkei heute, im Juli 2017? Die Gefängnisse sind voll, die Hotels leer, die Verhandlungen mit der EU stehen still, im Verhältnis zu Deutschland herrscht Gefrierfachkälte. Erdoğan hat ein Referendum so hingebogen, dass seine quasi diktatorische Machtfülle Verfassungsrang bekam. Richter und Staatsanwälte sind ein willfähriges Instrument der Regierung, die meisten Medien ebenso. Was ist also gewonnen - und was verloren?

Verloren hat die türkische Demokratie, sie liegt in Scherben. Erdoğan hat das "Gottesgeschenk", wie er den Putschversuch nannte, genutzt, um Zehntausende Kritiker wegzusperren. Über dem Land liegt ein Schleier der Depression, es herrscht ein Klima der Denunziation. Immer mehr Menschen werden zu Verrätern erklärt, sie verschwinden aus Jobs, Universitäten, Medien, sie werden aus der Gesellschaft ausgestoßen.

Nie war es einfacher, einen unliebsamen Konkurrenten oder Nachbarn loszuwerden. Es reicht, ihm nachzusagen, er habe einst ein Buch des Predigers Fethullah Gülen besessen. Das eingezogene Vermögen enteigneter Unternehmer und Privatpersonen füllt - nach offiziellen Angaben - bereits einen Staatsfonds mit zehn Milliarden Euro. Ein gigantischer Raubzug, denn die meisten Menschen, denen man alles nahm, hat bislang kein Gericht verurteilt.

Selbst wenn die Verantwortung von Gülen-Kadern für den Putschversuch zweifelsfrei erwiesen werden sollte, ist eine solche Hexenjagd nicht zu rechtfertigen. Wer einmal einer Gülen-Predigt lauschte, muss noch lange kein Putschist sein. Andernfalls müssten sich große Teile der Erdoğan-Partei selbst in Sack und Asche in eine Gefängniszelle einweisen.

Dem nationalen Rausch wird Ernüchterung folgen

Die Hexenjagd aber ist Programm, die Verbreitung von Furcht und Schrecken soll die eigenen Reihen noch enger schließen. Erdoğan ist offenbar besessen von der Vorstellung, dass jederzeit neue Verschwörer auftauchen könnten, so macht er das ganze Land zur Geisel seiner Angst. Solange das so bleibt, wird die Türkei nicht zur Ruhe kommen, sie wird instabil im Inneren und unberechenbar in ihrer Außenpolitik bleiben.

Erdoğan macht inzwischen den Westen quasi für jedes Übel verantwortlich, das sein Land getroffen hat, er träufelt immer neues Gift in die Debatte: Der Putschversuch wird in der Erinnerungsrhetorik nun auch den USA angelastet. Erdoğan will sein Volk in einen nationalen Rauschzustand versetzen, auf längere Sicht aber wird Ernüchterung folgen. Die Wirtschaft leidet schon jetzt, Investoren bleiben aus. Erdoğans Politik der Islamisierung verschärft zudem die Spannungen in der Gesellschaft. Religiöse Eidesformeln für Polizisten, Gebete zum Putschgedenken, die Streichung der Evolutionslehre aus dem Schulunterricht: Vielen Türken geht solche Bigotterie gehörig gegen den Strich.

Trotzdem: Auch die türkische Opposition wünscht sich nicht das Militär oder einen anderen Diktator an die Macht. Sie will Erdoğan stürzen, aber durch Wahlen. Sie hat jetzt daran erinnert, dass auch sie vor einem Jahr die Demokratie auf den Straßen verteidigt hat, und dass für alles, was danach kam, für den Ausnahmezustand und schwerste Menschenrechtsverletzungen, ein einziger Mann verantwortlich ist, der seine Macht nicht teilen kann. Erdoğan hat nach dem 15. Juli vor einem Jahr die Chance auf einen demokratischen Neuanfang in der Türkei verspielt.

© SZ vom 17.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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