Flüchtlinge:Merkels Abhängigkeit von Sultan Erdoğan

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Tausende Flüchtlinge sind auf der Route über die Türkei unterwegs. (Foto: dpa)

Als "Schlüsselland" in der Flüchtlingsfrage hat Merkel die Türkei bezeichnet. Doch nun hält jener Mann den Generalsschlüssel in der Hand, dem sie nicht vertraut.

Kommentar von Christiane Schlötzer

Als Angela Merkel vor drei Monaten in Istanbul Recep Tayyip Erdoğan aufsuchte, empfing sie der türkische Präsident mit Pomp und Gloria. Er ließ Merkel auf einem goldenen Stuhl Platz nehmen, das war, wenn man es näher betrachtet, mehr als Höflichkeit. Es war sogar ein bisschen perfide, weil die Deutsche, unfreiwillig natürlich, damit zum Teil der Prachtentfaltung des Türken wurde, wie eine Statistin in einem Hofzeremoniell. Nun muss die Kanzlerin befürchten, eben jener Erdoğan, der sich so gern vor aller Welt wie ein Sultan inszeniert, könnte ihr den Stuhl wegziehen. Nicht den aus Gold, sondern den, auf dem sie in Berlin sitzt.

Als "Schlüsselland" hat Merkel bei jenem Besuch am Bosporus die Türkei bezeichnet. Da ahnte sie noch nicht, dass der Schlüssel, den Erdoğan in der Hand hat, quasi ein Passepartout ist, eine Art Generalschlüssel zu einer Fluchttür - und zwar einer Tür für Merkel, durch die sie herauskäme aus ihrer Zwangslage: Sie muss dringend erreichen, dass weniger Migranten nach Deutschland kommen, andernfalls wird sich der Druck auf sie ins politisch Unerträgliche steigern.

Die aktuelle Lage stellt die Verhältnisse auf den Kopf

Dafür soll Erdoğan den großen Exodus der Kriegsflüchtlinge aus seinem Land stoppen, und auch die marokkanischen Trittbrettfahrer, die von Turkish Airlines visafrei nach Istanbul gebracht werden. Ankara hat das grundsätzlich schon mal versprochen, ohne viel Effekt, und Premier Ahmet Davutoğlu fand am Freitag in Berlin wieder verbindliche Worte. Nur, wird das alles etwas ändern, oder werden sich bei gutem Wetter weiterhin täglich Tausende an türkischen Stränden in dünne Gummiboote setzen? Was passiert, wenn alles so bleibt wie es ist? Was wird dann aus der Kanzlerin? Und was aus dem deutsch-türkischen Verhältnis, wenn Erdoğan seinen Schlüssel nicht so nutzt, wie man in Berlin hofft?

Merkel braucht also Erdoğan, Deutschland und die EU brauchen die Türkei. Das stellt die gewohnten Verhältnisse schon mal auf den Kopf. Zuletzt war man in Berlin und Brüssel nur froh, wenn Ankara von selbst auf Abstand blieb. Schließlich war vieles, was aus der Türkei drang, nicht geeignet, Sympathien für Erdoğan zu gewinnen: die Eskalation der Gewalt im kurdisch geprägten Südosten, die systematische Einschüchterung von Regierungsgegnern, Festnahmen von Journalisten, die flagrante Korruption, und ein Präsident, der sich um Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung immer weniger schert. Bevor die Türkei und Russland sich über Syrien zerkriegten, verstanden Erdoğan und Wladimir Putin sich auffällig gut, von Machtmensch zu Machtmensch.

Merkel und Putin - das ist auch ein höchst kompliziertes Verhältnis, aber wollen die beiden miteinander reden, finden sie dafür eine gemeinsame Sprache: ob Russisch oder Deutsch. Mit Erdoğan teilt Merkel dagegen kein Idiom. Das klingt banal, ist es aber nicht. Erdoğan und Merkel sind beinahe gleich lang an der Macht, sie sind im selben Jahr geboren, beide konservativ - und sich stets fremd geblieben. Erdoğan redet gern von "Ehre" und "Stolz", wenn er die Bedeutung seine Landes herausstreichen will, Begriffe, die nicht in Merkels Vokabular einer Vernunftbeziehung passen. Vertrauen ist nie gewachsen. Es wäre nun bitter nötig.

Vielleicht aber hilft auch schon Verständnis für die jeweiligen Interessen. Die von Merkel kennt man auch in Ankara. Und umgekehrt? Die Türkei erlebt nicht erst seit ein paar Monaten eine Flüchtlingswelle aus Syrien, sondern seit 2011. Geschätzt 2,8 Millionen Syrer und Iraker haben bei den 78 Millionen Türken Zuflucht gefunden, für nur etwa jeden Zehnten gibt es Platz in einem Lager. Die anderen schlagen sich so durch. Wenn die Türkei deren Weiterflucht bisher nur mit halbem Herzen und gebremster Küstenwache unterbindet, dann auch deshalb, weil sie gern noch ein paar Tausend Leute los würde, und weil beim Schleppergeschäft für viele etwas abfällt.

Was von der Türkei nun verlangt wird, ist eine gewaltige Herausforderung: Sie soll die Flüchtlinge arbeiten lassen, trotz ohnehin steigender Arbeitslosigkeit, alle Kinder (150 000 sind schon in der Türkei geboren) in Schulen schicken und darauf vertrauen, dass die EU ihr ein paar Hunderttausend Menschen freiwillig abnimmt. Letzteres ist aber völlig ungewiss. Und solange die EU nicht ihre zugesagte Milliardenhilfe für Ankara zusammenkratzt, dürfte dort der Zynismus weiterregieren. Wie hatte Erdoğan im November im Sender CNN doch gleich gesagt: "Was geschieht wohl, wenn 2,2 Millionen Flüchtlinge nach Europa marschieren?"

Nur durch Zusammenarbeit gibt es weniger Tote

Erdoğan droht gern, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt, und das tut er ohne Zweifel: Die fetten Wachstumsjahre sind passé, viele Touristen bleiben nach Anschlägen weg, die türkische Nahostpolitik ist ein Scherbenhaufen. Der Sultan braucht dringend einen Erfolg. Die Visafreiheit für Türken, im Gegenzug für den Stopp der Flüchtlinge, wäre ein solcher. Für viele Türken ist Reisefreiheit zu den eigenen Kindern in Deutschland - ohne nervige oder gar demütigende Konsulatsprozeduren - wichtiger, weil greifbarer, als eine EU-Mitgliedschaft, an die sie meist nicht mehr glauben. Der Vorteil: Ankara müsste seine Visa-Regeln der EU anpassen, also die Visa-Freiheit beispielsweise für Staaten Nordafrikas wieder einschränken.

Und noch etwas: Die EU muss Erdoğan klarmachen, dass es die neue Bewegungsfreiheit für Türken nur gibt, wenn er seinen Landsleuten nicht ihre Freiheit nimmt. Denn wenn die Türkei - wie in den finsteren Neunzigerjahren - selbst wieder Fluchtgründe schafft, werden die Europäer sich die Sache rasch anders überlegen. Übrigens: Distanz zwischen der EU und der Türkei war für die türkische Demokratie bislang nie hilfreich, das spricht für eine Wiederannäherung - über Europas und Merkels Eigeninteressen hinaus.

Will die EU aber auch den Flüchtlingen helfen, dann sollte sie ihren nächsten Hotspot im türkischen Edirne einrichten, an der Landgrenze zu Griechenland. Dann könnte dort entschieden werden, wer weiterreisen darf, und diese Menschen müssten nicht mehr aufs Meer. Es gäbe weniger Tote. Darauf könnten Angela Merkel und die Türkei dann sogar gemeinsam ein bisschen stolz sein.

© SZ vom 23.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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