Die Wahl eines Ministerpräsidenten der FDP in Thüringen mit Hilfe von CDU und AfD ist für die Bundesparteien von Liberalen und Christdemokraten ein Desaster von unabsehbarer Dimension. Es offenbart eine eklatante Führungsschwäche, weil anscheinend jeder in diesen Parteien tun und lassen darf, was er für opportun erachtet. Der Imageschaden lässt sich schon daran ermessen, dass FDP und CDU bei der Schilderung der Erfurter Ereignisse nun fortwährend in einem Atemzug mit der AfD genannt werden. Man gehört jetzt zusammen.
Woran beide Parteien aber besonders zu leiden haben werden, ist die Tatsache, dass sie den Begriff der Bürgerlichkeit, auf den sie so großen Wert legen, in den Dreck haben ziehen lassen. Nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, als die AfD anhand der Ergebnisse eine rechnerische "bürgerliche" Mehrheit proklamierte, wiesen CDU und FDP das noch empört zurück. Nun haben sie in Thüringen gemeinsam dafür gesorgt, dass sich diese Mehrheit im Parlament manifestierte. Das, was man gemeinhin bürgerliche Tugenden nennt, Anstand, Besonnenheit und die Einhaltung von Regeln, haben sie ersetzt durch Machtgier, Leichtsinn und faule Ausreden.
Es sträubt sich etwas gegen den Vergleich mit der Weimarer Republik und deren Ende, einfach weil die Verhältnisse ganz anders waren, vorneweg die wirtschaftlichen. Auch ist Thüringen zu klein für die ganz große Parallele. Aber nachdenklich stimmt einen schon, dass das Undenkbare dann doch immer wieder passiert und nun noch ausgerechnet im Thüringen eines Björn Höcke. Die 180-Grad-Wende, die Höcke einst für die historische Erinnerungspolitik forderte, die hat er nun von CDU und FDP sogar für die politische Gegenwart bekommen. Die Republik fällt mit jedem Erfolg der AfD in einen Modus des "Das kann doch nicht wahr sein". Aber: Es ist wahr. Und nichts scheint mehr unvorstellbar zu sein.
Die CDU-Bundesvorsitzende sagt, die Thüringer Christdemokraten hätten gegen die Beschlusslage der eigenen Partei gehandelt. Annegret Kramp-Karrenbauer hat recht mit dieser Feststellung, aber sie unterstreicht mit ihrer Klage auch die eigene Schwäche. Niemand in der Spitze der Bundes-CDU kann gewollt haben, was in Thüringen geschah, das darf man weiter unterstellen. Aber es war eben auch niemand einflussreich genug, es zu verhindern, schon gar nicht die Vorsitzende. Darin liegt ihre Verantwortung. Wenn sie jetzt berichtet, vergeblich auf die FDP eingeredet zu haben, ist das ein untauglicher Versuch, davon abzulenken, dass sie die eigenen Truppen nicht unter Kontrolle hatte.
Um den FDP-Vorsitzenden Christian Lindner steht es noch schlimmer. Sein ziseliertes Statement zur Wahl in Erfurt war wohl als Abwägung gemeint zwischen der Loyalität zum frisch gewählten Parteifreund und der Distanzierung von den Umständen dieser Wahl. Tatsächlich geriet es zu einem peinlichen Geeiere, das Verantwortung nach Thüringen abschieben sollte, wo der FDP-Chef in Berlin Verantwortung hätte übernehmen müssen. Was sollen die Worte des FDP-Vorsitzenden heißen, eine Kooperation mit der AfD könne es für eine FDP unter Lindners Führung nicht geben? Es hat sie schon gegeben, sonst wäre Thomas Kemmerich nicht Ministerpräsident. Will Lindner, sollte es in Thüringen nicht zu Neuwahlen kommen, jede weitere Mehrheit von FDP, CDU und AfD in Sachfragen zum Versehen erklären? Du oder ich - das wäre die einzig glaubwürdige Reaktion Lindners an die Adresse des Parteifreundes in Erfurt.
Es gibt die Dinge, für die gilt: Das tut man nicht
CDU und FDP, das selbsternannte bürgerliche Lager in der Politik, sprengt sich gerade selbst. Ohnehin definierte sich dieses Lager zuletzt immer weniger durch einen Wesenskern und immer mehr nur noch durch Abgrenzung, gerne nach links und gegen die Grünen. Nun wollte es sich mal wieder öffnen - und hat dafür die falsche Richtung genutzt. Als obsolet lassen CDU und FDP damit ganz nebenbei das bürgerliche Prinzip erscheinen, dass es Dinge gibt, für die gilt: Das tut man nicht.
CDU und FDP werden im Bund lange schwer zu tragen haben, wenn sie diesen 5. Februar nicht schnell und in aller Klarheit korrigieren im Sinne von Kanzlerin Angela Merkel, die diese Wahl "unverzeihlich" nennt. Scheitern die beiden Parteien, würde sich das nicht nur auf ihre Wahlergebnisse auswirken, sondern auch auf ihre Optionen. Eine schwarz-grüne Mehrheit nach der nächsten Bundestagswahl ist jedenfalls wieder schwieriger geworden. Der pragmatischste Grüne könnte einem Parteitag kaum die Koalition mit einer CDU empfehlen, die in Thüringen die Tolerierung durch die AfD toleriert.
Die größte Gefahr aber besteht darin, dass sich Wähler der sogenannten bürgerlichen Parteien einfach abwenden von ihren vermeintlichen politischen Repräsentanten. Sie hätten nach Erfurt guten Grund dazu. Denn FDP und CDU haben nicht nur Werte verraten, sondern auch jene ihrer Wähler, denen diese Werte wirklich etwas bedeuten.