Terrorverdacht in Chemnitz:Ermittler in Erklärungsnot: Wie entkam der Verdächtige trotz Großaufgebots?

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  • Die Ermittler im Fall des Chemnitzer Terrorverdachts müssen erklären, warum der Verdächtige trotz Großaufgebots der Polizei entkommen konnte.
  • Die drei Syrer, die ihn überwaltigt, gefesselt und der Polizei übergeben haben, bleiben zu ihrem eigenen Schutz anonym.
  • Der Terrorverdächtige wollte nach Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz wohl einen Flughafen in Berlin attackieren. Er sei rund um die Uhr observiert worden, so Verfassungsschutzpräsident Maaßen.

Von Cornelius Pollmer und Ronen Steinke

Sonntagabend, es ist kurz vor Mitternacht, als ein Syrer das Polizeirevier Leipzig-Südwest betritt. Er hat ein Handy dabei, darauf ein Bild, es zeigt einen Mann, der zu dieser Zeit in ganz Deutschland gesucht wird, das Fahndungsfoto lief im Fernsehen. Die Handyaufnahme zeigt ihn im Schwitzkasten, die Füße gefesselt. Allein in Sachsen sind mehr als 700 Polizeibeamte hinter dem Gesuchten her, das Bundeskriminalamt hat Leute geschickt, die Bundespolizei, die benachbarten Länder auch, es gibt Personenkontrollen an Bahnhöfen, Fahrzeugkontrollen vor Flughäfen. Aber in die Falle gegangen ist Dschaber al-Bakr, der Mann auf dem Handyfoto, nicht der Polizei, sondern dreien seiner Landsmänner hier in Leipzig.

Sie hätten ihn auf dem Fahndungsaufruf, den die Polizei auch auf Englisch und Arabisch im Internet verbreitet hatte, erkannt und selbständig festgesetzt, sagt kurz vor Mitternacht der Mann auf der Polizeiwache. Als die Beamten ihm in ein Haus im Stadtteil Paunsdorf folgen, bekommen sie tatsächlich den Gesuchten überreicht, die Füße mit Stromkabeln gefesselt, die Hände hinter den Rücken gebunden. Es ist 0.41 Uhr. Die Sorge ist groß gewesen, dass al-Bakr einen Anschlag verüben könnte, nachdem in Chemnitz am Samstagmorgen seine Bombenwerkstatt aufgeflogen war, darin mehrere Hundert Gramm hochexplosiven Sprengstoffs, eine laut Bundesanwaltschaft "überaus professionell" zusammengemischte Substanz. Der 22-Jährige stand über das Internet offenbar mit dschihadistischen Kreisen in Kontakt, in seiner Bombenwerkstatt fand sich auch Material für eine Sprengstoffweste. Und als er davonlief, hatte er einen Rucksack übergeworfen. Inhalt unbekannt.

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Wenn es Hinweis auf Anschlagspläne gibt, sollen sich Vertreter von 40 deutschen Sicherheitsbehörden austauschen. Im Fall Dschaber al-Bakr hat das wohl funktioniert.

Die Syrer bleiben anonym - um sie vor Rache zu schützen

Vor gut einem Jahr, als drei junge Amerikaner einen Attentäter im Thalys-Schnellzug zwischen Amsterdam und Paris überwältigten, hängte ihnen Frankreichs Präsident François Hollande Orden um. Die drei Männer waren gefeierte Helden. Für die drei Syrer aus Leipzig nun gibt es zwar auch viel Dank, deutlich von Bundeskanzlerin Angela Merkel, etwas verhalten von Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) und dem Präsidenten des Landeskriminalamts, die bei einer Pressekonferenz am Nachmittag lieber vom großen Erfolg der Polizeizusammenarbeit sprechen. Aber Bilder gibt es zunächst nicht, auch keine Namen. Die Sicherheitsbehörden wollen nicht einmal sagen, ob es sich bei den drei Syrern, denen sie an diesem Tag so viel verdanken, um Flüchtlinge handelt. Es gebe ein "ausdrückliches Interesse", ihre Anonymität zu wahren, erläutert LKA-Präsident Jörg Michaelis. Islamisten könnten sonst Rache nehmen.

Am Abend indes meldet sich einer der drei Syrer angeblich selbst zu Wort: Dschaber al-Bakr habe versucht, die drei mit Geld zu bestechen, damit sie ihn laufen lassen, so erzählt er, anonym, dem Sender RTL: "Ich war total wütend auf ihn. So etwas akzeptiere ich nicht - gerade hier in Deutschland, dem Land, das uns die Türen geöffnet hat."

Der aktuelle Fall hat etwas gemeinsam mit den Anschlägen in Würzburg und Ansbach vom Sommer. Der Terrorverdächtige Dschaber al-Bakr war als Flüchtling nach Deutschland gekommen, er war im Februar 2015 in einer Erstaufnahmeeinrichtung in München registriert worden und einen Tag später nach Chemnitz gekommen, zuletzt war er in Eilenburg nordöstlich von Leipzig gemeldet. Auch in Würzburg und Ansbach waren die Täter Flüchtlinge, die politische Stimmung im Land war dadurch noch einmal angeheizt worden. Aber im Fall Chemnitz steckt auch etwas anderes. Jene überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge, die den Terror ablehnt, hat ein Gesicht bekommen, so scheint es.

Hinweise auf Angriffe auf Berliner Flughafen

Die Hinweise auf einen Anschlagsplan gegen Bahnhöfe, Züge oder Flughäfen kamen offenbar nicht aus Deutschland, sondern von Nachrichtendiensten aus Frankreich und den USA. Im Gemeinsamen Terror-Abwehr Zentrum in Berlin-Treptow hatten der Bundesnachrichtendienst und das Bundesamt für Verfassungsschutz diese Information mit Polizeibehörden geteilt, schon seit Mitte September wurde der Verdachtsfall dort diskutiert.

Erst am vergangenen Donnerstag konnte der Verfassungsschutz die gesuchte Person identifizieren, wie dessen Präsident Hans-Georg Maaßen der ARD erzählt. Am nächsten Tag habe der nun rund um die Uhr observierte Verdächtige in einem Ein-Euro-Shop Heißkleber gekauft - und die Ermittler wussten, so Maaßen: "Dies kann im Grunde die letzte Chemikalie sein, die für ihn notwendig war, um eine Bombe herzustellen."

Die sächsischen Ermittler, so erklärt es LKA-Chef Michaelis, hätten aber nicht sicher feststellen können, in welcher Wohnung sich al-Bakr befinde. Ein Zugriff im Haus hätte ein "unkalkulierbares Risiko" bedeutet, die Menge an Sprengstoff war gewaltig. Deswegen habe die Polizei sich für eine "Zugriffsvariante außerhalb des Gebäudes" entschieden.

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Ein syrischer Landsmann hielt den Gesuchten in Leipzig fest und alarmierte die Polizei. Merkel dankt dem Hinweisgeber für sein Handeln.

Um kurz nach 7 Uhr verließ am Samstag ein Mann das Haus; Dschaber al-Bakr sei "von Observationskräften aus einiger Entfernung bemerkt" worden, sagt der LKA-Chef. Er sei "von Einsatzbeamten aufgefordert" worden, stehen zu bleiben. Ein Warnschuss sei abgegeben worden, aber: "Der Flüchtende reagierte nicht." Und er rannte offenbar schneller als seine Verfolger: "Die unmittelbare Verfolgung des Flüchtenden scheiterte." Auch weil die Einsatzbeamten "schwere Schutzkleidung" trugen, "mit einem Gewicht über 30 Kilogramm", sagt der LKA-Chef.

Aber wie entkam der Bombenbauer nach Leipzig? Wie konnte er dort am Samstagabend gegen 22 Uhr sogar noch seine alte Wohnung im nordsächsischen Eilenburg aufsuchen, wie die Leipziger Volkszeitung berichtet, wo die Polizei erst später eintraf? In Dresden sitzt jetzt nicht nur al-Bakr in Untersuchungshaft und bekommt solche Fragen gestellt, auch sein mutmaßlicher Helfer, der 33-jährige Khalil A., der die Wohnung in Chemnitz angemietet hatte. Er wurde am Samstag am Chemnitzer Bahnhof festgenommen, von der Polizei.

© SZ vom 11.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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