SZ-Wahlzentrale:"Die AfD kann nur wählen, wer die Demokratie brennen sehen will"

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AfD-Anhänger erwarten Merkel auf einer Wahlkampfveranstaltung in Regensburg mit Plakaten. (Foto: dpa)

Obwohl sie selbst noch unentschlossen ist, hat Schriftstellerin Thea Dorn kein Verständnis für Nichtwähler, weil diese die AfD stützen. Der SPD wünscht sie ein miserables Ergebnis - in deren eigenem Interesse.

Interview von Karin Janker

Fünf Monate lang haben vier Intellektuelle für die SZ den Bundestagswahlkampf beobachtet und in der Interviewserie Wahl-Watcher kommentiert. Wenige Tage vor der Wahl zieht nun die Schriftstellerin Thea Dorn Bilanz und verrät, auf welches Wahlergebnis sie hofft.

SZ: Frau Dorn, feierlicher Akt oder Staatsbürgerpflicht - mit welchen Gefühlen gehen Sie am Sonntag wählen?

Thea Dorn: Ich werde in meinem Wahllokal in einem Berliner Businesshotel meine zwei Kreuze machen, aber ich werde es aus Pflichtgefühl tun. Sagen wir so: Es gab schon Wahljahre, in denen habe ich mich feierlicher gefühlt bei der Stimmabgabe.

Wann zum Beispiel?

Etwa 1998, als Kohl abgewählt und Schröder Kanzler wurde. Da bin ich, nachdem das Ergebnis der ersten Hochrechnung verkündet worden war, auf die Straße runter, um Essen vom Asiaten zu holen. Und habe Volksfeststimmung erwartet - die es natürlich nicht gab. Aber mir war, als sei die Bundesrepublik an diesem Tag erwachsen geworden: Zum ersten Mal war eine Regierung vollständig abgewählt worden. Ähnlich euphorisch war ich 2005, als Merkel als erste Frau Kanzlerin wurde. Beide Male folgte danach ein langsamer Prozess der Ernüchterung.

In diesem Jahr scheint die Ernüchterung schon vor dem Wahltag eingesetzt zu haben. 40 Prozent der Wähler wissen noch immer nicht, wen sie am Sonntag wählen werden.

Da geht es mir ganz ähnlich. Auch ich habe das Gefühl, die Parteien unterscheiden sich untereinander nur auf dem Millimeterpapier, während es gleichzeitig innerhalb der Parteien starke Spaltungen in einzelne Flügel gibt. Wenn einem beispielsweise die Grünen in Baden-Württemberg mit ihrem liberal konservativen Kurs sympathisch sind, heißt das noch lange nicht, dass man auch zu den Berliner Fundis Ja sagt. Ähnlich ist es in der CDU. Man wählt immer etwas mit, was einem nicht passt. Die Parteien sind derzeit zersplitterter denn je.

Im ersten Gespräch dieser Serie vor fünf Monaten stellten Sie mit ein wenig Pathos in der Stimme fest, es gehe bei der Bundestagswahl um "die Zukunft der westlichen Welt". Inzwischen glaubt kaum jemand mehr, dass eine entscheidende Richtungswahl bevorsteht. Bleiben Sie bei Ihrer Einschätzung?

Damals standen wir alle unter den Eindrücken der US-Wahl und der Erfolge des Front National in Frankreich. Inzwischen kann man im Bezug auf Deutschland aufatmen. Die USA werden zwar noch immer von einem überforderten Mann mit autoritären Sehnsüchten regiert. Aber immerhin ist in Deutschland die Gefahr einer etwaigen Regierungsbeteiligung der AfD aller Voraussicht nach gebannt - vorausgesetzt, die Menschen gehen wählen. Denn wenn nur genügend Leute aus der gesellschaftlichen Mitte am Sonntag zu faul oder zu unentschlossen sind, ihre Kreuze zu machen, droht unserem Land womöglich doch noch das Grauen, dass die AfD zweitstärkste Kraft wird.

Können Sie nicht verstehen, wenn Menschen aus Protest nicht wählen gehen, um ihre Wut oder Unzufriedenheit auszudrücken?

Absolut nicht. Wer nicht wählt, unterstützt indirekt die AfD. Und wer diese Partei aus Protest wählt, den würde ich - bei allem Verständnis für Wut - gerne fragen, ob er oder sie glaubt, dass diese heillos zerstrittene, hyperventilierende Partei tatsächlich irgendwelche Probleme lösen kann. Man muss doch nur in die USA schauen: Zwar hat der Hass jetzt ein Forum in der Gesellschaft bekommen - an den realen Problemen hat sich nichts geändert, im Gegenteil. Die AfD kann nur wählen, wer die liberale Demokratie brennen sehen will.

Gerade diese Mitte, die indirekt über den Stimmenanteil der AfD entscheiden wird, zeigt sich momentan aber besonders leidenschaftslos. Woran liegt das?

Es herrscht das Gefühl vor, das Ding sei schon gelaufen, was es natürlich nicht ist. Aber dieses Gefühl weckt keine Leidenschaften. Anders als bei der US- oder der Frankreichwahl, wo wir nur Zuschauer waren, scheint es bei dieser Wahl nicht ums Ganze zu gehen. Zugleich sind die Deutschen momentan so zufrieden wie nie. Ihre Zukunftsängste verdrängen sie offenbar erfolgreich, ebenso wie die gigantischen Veränderungen, die etwa die Digitalisierung und Vollautomatisierung für unsere Welt bedeuten. So etwas wird heute nicht in der Politik diskutiert, sondern höchstens noch in den Feuilletons.

Warum ist es keiner Partei gelungen, diese großen Themen in den Wahlkampf zu bringen?

Die FDP hat es immerhin versucht - aber mit ihrem Motto "Digital first. Bedenken second" gleich den Preis für einen der dümmsten Slogans dieses Wahlkampfs abgeräumt. Eine solche Aussage erscheint mir hochgradig frivol. Die SPD hätte eben diese Themen nutzen können, um Merkel anzugreifen, indem sie etwa gefragt hätte, wie sich die CDU denn die angestrebte Vollbeschäftigung vorstellt, wenn realistischerweise davon auszugehen ist, dass in den kommenden 10 bis 20 Jahren mindestens 5 bis 10 Prozent - alarmistischere Stimmen sagen die Hälfte - aller Arbeitsplätze durch den technologischen Wandel bedroht sind. Die SPD hätte sich Gedanken machen können, wen sie in Zukunft eigentlich vertreten will. Wer ist der vielbeschworene "kleine Mann" im digitalen Zeitalter? Sie hat es aber versäumt, irgendjemanden aufzurütteln oder zu begeistern, indem sie einen einfach nur biederen, uninspirierten Wahlkampf geführt hat. Das nehme ich ihr übel. Ich wünsche den Sozialdemokraten, dass sie dafür abgestraft werden, indem sie unter 20 Prozent rutschen.

Steckt hinter diesem Wunsch Schadenfreude?

Nein, keine Schadenfreude. Ich bedauere den Niedergang der Sozialdemokraten. Die SPD war immer eine ehrwürdige und für lange Zeit im Vergleich zur CDU auch die intellektuell interessantere Partei. Aber eine weitere Legislaturperiode in der großen Koalition würde sie endgültig aufreiben und im Übrigen auch dem geistigen Klima in unserem Land schaden.

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Spricht aus der Ratlosigkeit der Mitte auch Langeweile angesichts des politischen Betriebs?

Langeweile ist kein Kriterium, mit dem man über Politik urteilen sollte. Das wäre infantil. Politik ist keine Fernsehserie, die uns unterhalten soll. Ein triftiges Argument finde ich allerdings, dass ich schon lange keinen Politiker mehr erlebt habe, bei dem ich eine Haltung und eine Emotionalität erkenne, die ich ihm abnehme. Politik bedeutet nicht nur zu verwalten, sondern eine Sprache zu finden für die Gefühle in der Bevölkerung.

Woran scheitert das?

Wir leben in einer von Demoskopie besessenen Demokratie. An Angela Merkel lässt sich das gut ablesen: Sie ist ein Genie der Anpassung. So wie sie nach 1989 die Umstellung von ostdeutschem System auf bundesrepublikanisches System perfekt und ohne sichtbare innere Erschütterungen vollzogen hat, vermag sie auch heute jedem Stimmungsumschwung zu folgen. Ich glaube, dass sie ein persönlich integrer Mensch ist. Aber darüber hinaus scheint sie keine starken Haltungen zu haben. Wenn sich Politiker immer nur nach den wochenaktuellen Vorlieben der Bevölkerung richten, führt das dazu, dass die Wähler zu Konsumenten verzogen werden, die erwarten, dass ihnen etwas Interessantes vorgesetzt wird, das sie dann bewerten können: Gefällt mir oder Gefällt mir nicht. Politiker sollten stattdessen mit ihrer Überzeugung für etwas stehen, woran sich die Wähler abarbeiten können. Politik muss manchmal auch eine Zumutung sein und nicht immer nur leichte Kost.

Wissen Sie denn schon, wen Sie am Sonntag wählen werden?

Tatsächlich bin auch ich noch ratlos. Ich schwanke zwischen vier Parteien, die ich für grundsätzlich wählbar halte und die ich alle schon einmal gewählt habe - wobei die SPD aus den genannten Gründen für mich diesmal ausscheidet. Ich habe sogar den Wahlomat gemacht, aber auch der hat mir kein eindeutiges Ergebnis geliefert. Also bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mit Blick auf die gewünschte Koalition taktisch zu wählen.

Und diese Koalition wäre?

Jamaika - im Interesse der SPD. Und vielleicht würde es dann für Merkel mit FDP und Grünen ein bisschen unbequemer.

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Thea Dorn, geboren 1970 in Offenbach am Main, ist Schriftstellerin und Moderatorin, seit Kurzem auch regelmäßig im "Literarischen Quartett". In ihren Essays und Büchern ergründet sie die politische Kultur und die Gesellschaft in Deutschland, zum Beispiel in "Ach, Harmonistan" oder "Die deutsche Seele". Zuletzt erschien von ihr der Roman "Die Unglückseligen" (Knaus-Verlag).

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