Wenige Tage nach dem Suizid von Dschaber al-Bakr geht die Fehlersuche weiter. Am Dienstagnachmittag beschäftigen sich der Innen- sowie der Rechtsausschuss des Sächsischen Landtags mit den Pannen um die Festnahme des Terrorverdächtigen sowie dessen Tod in der Justizvollzugsanstalt Leipzig. Auch im Bundestag werden sich die entsprechenden Ausschüsse mit dem Thema befassen. Zudem soll eine externe Expertenkommission den Fall untersuchen und Fehler benennen.
Interessant dürften nicht nur die Ergebnisse der unterschiedlichen Nachforschungen sein, sondern auch, wie sie in der Politik aufgenommen werden. Manch einer zweifelte sogar daran, dass überhaupt etwas schiefgelaufen ist im Fall al-Bakr. So erklärte der sächsische Justizminister Sebastian Gemkow wiederholt, die Behörden hätten "lege artis" gehandelt, also nach allen Regeln der Kunst. Erst später räumte er dann doch Versäumnisse ein: "Wir alle müssen im Umgang mit islamistischen Strafgefangenen dazulernen", sagt er der Bild am Sonntag. "Offensichtlich reichen unsere herkömmlichen Instrumente und Erfahrungen zur sicheren Unterbringung von Gefangenen nicht aus."
Mit dieser Aussage versuchte Gemkow, das Problem auf Bundesebene zu heben. Denn sie legt nahe, dass es nicht nur in Sachsen, sondern auch bei den Sicherheitsbehörden der anderen Bundesländern ein Strukturproblem gibt.
Bundespolitiker griffen das Thema auf. So fordert der CSU-Innenexperte Stephan Mayer eine schnellere Überstellung von Terrorverdächtigen zum Generalbundesanwalt in Karlsruhe. Im Fall al-Bakrs war das zunächst wegen eines Haftbefehls des Amtsgerichts Dresden nicht möglich gewesen. Fraglich ist aber, ob eine schnellere Überstellung wirklich das Fiasko hätte verhindern können. Zwar wäre al-Bakr dem Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe vorgeführt worden. Anschließend hätte er aber wieder in ein sächsisches Gefängnis zurückgemusst. Die Bundesanwaltschaft verfügt über keinen eigenen Strafvollzug. Deswegen müssen Verdächtige ihre Untersuchungshaft am Ort des zu erwartenden Strafprozesses antreten (mehr dazu hier).
Der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Burkhard Lischka, fordert deshalb eine "zentrale Unterbringung von Terrorverdächtigen und Gefährdern". Bisher gilt für Verdächtige im Strafvollzug: Gleiches Recht für alle. Die Haftbedingungen für einen Drogendealer, einen Sexualstraftäter oder eben für einen Terrorverdächtigen orientieren sich nicht am Vergehen, das dem Häftling vorgeworfen wird. Sie richten sich danach, inwiefern der Betroffene für sich und andere eine Gefahr darstellt. So können Suizidgefährdete zum Beispiel in einer besonders gesicherten Zelle untergebracht werden.
Eine zentrale Unterbringung nur für Dschihadisten - so wie Lischka sie vorschlägt - würde einen massiven Eingriff in die Grundrechte bedeuten. Besuch von Angehörigen und eine Resozialisierung wären nur bedingt möglich. Außerdem ließe sich ein Suizid nicht unbedingt verhindern, wie das Schicksal der RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe zeigt. Sie waren gemeinsam in einem Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt Stammheim unter erschwerten Haftbedingungen untergebracht, wo sie sich selbst töteten.
Muss man überhaupt etwas an den Vorschriften ändern? Oder entstehen die Probleme eher in der praktischen Anwendung? Christoph Gusy, Experte für innere Sicherheit, hält die Vorgaben im Strafvollzug für völlig ausreichend auch im Umgang mit mutmaßlichen Dschihadisten. "Da gibt es derzeit keinen Handlungsbedarf." Politiker aber auch Polizeivertreter kritisieren zum Beispiel, dass der 22-Jährige al-Bakr nicht per Kamera überwacht wurde, um einen Suizid zu verhindern. In Sachsen allerdings wäre eine solche Überwachung - anders als in anderen Bundesländern - nicht erlaubt. Gusy entgegnet, dass unabhängig davon "eine solche Überwachung erst mal angeordnet werden müsste". Dies könne nur geschehen, wenn die Behörden die Notwendigkeit einer solchen Überwachung überhaupt erkennen. Im Fall al-Bakr wurde die zunächst nicht einmal überprüft ( eine Chronologie). Eine eingehende Befragung bei der Aufnahme des Häftlings fand nicht statt, weil es keinen Dolmetscher gab. Eine Psychologin erklärte ihn am Dienstag, einen Tag später, für nicht suizidgefährdet, woraufhin von einer ständigen Kontrolle der Zelle durch einen Beamten abgeraten wurde. Und das obwohl die Haftrichterin auf einen möglichen Suizid hingewiesen hatte.
Sächsisches Versagen?
Oliver Malchow, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, wehrt sich gegen die derzeit gängige Argumentation, ein Selbstmordattentäter sei automatisch suizidgefährdet. "Für mich ist das nicht so eindeutig. Schließlich kann man auch zu der Überzeugung gelangen, dass ein Attentäter Selbstmord begeht, um so viele wie möglich mitzunehmen." Um im Einzelfall entscheiden zu können, ob jemand "lebensmüde" sei, brauche es geschultes Personal. Wie schnell kriegt man einen Dolmetscher ran? Ist ein Psychiater nicht besser für die Bewertung einer Suizidgefahr geeignet? Das seien Fragen, die in Zukunft berücksichtigt werden müssten, sagt Malchow.
Die Sicherheitsbehörden, insbesondere die Polizei, hält Malchow allerdings für ausreichend vorbereitet für den Umgang mit Terrorverdächtigen. Er betont, dass in jedem Bundesland Spezialisten säßen, die an den Ermittlungen beteiligt seien. Auch wenn es in Sachsen nicht gut geklappt habe, "gibt es Beispiele, wo die Arbeit sehr gut funktionierte".
Ein Blick in die jüngste Vergangenheit gibt Malchow recht. 2007 konnte die Polizei in Nordrhein-Westfalen drei Mitglieder der sogenannten Sauerlandgruppe festnehmen, die Anschläge in Deutschland planten. Auch hier leitete die Ermittlungen der Generalbundesanwalt. 2011 veranlasste er die Festnahme von vier Mitgliedern der Terrororganisation al-Qaida in Düsseldorf und Bochum. In beiden Fällen wurden die Verdächtigen vor Gericht gestellt und verurteilt. Auch die Festnahme von Dschaber al-Bakr hätten die Ermittler als Erfolg verbuchen können, vor allem weil er schon früh als Terrorverdächtiger identifiziert wurde. Doch dann konnte er trotz eines Großaufgebots entwischen.
Der Sicherheitsexperte Christoph Gusy hält das Versagen der Sicherheitsbehörden im Fall al-Bakr für ein speziell sächsisches. Die Aussage von Justizminister Sebastian Gemkow, alle müssten im Umgang mit islamistischen Strafgefangenen dazulernen, bezeichnet er als Ablenkungsmanöver. "In Sachsen ist eine Verkettung von fatalen Fehlern passiert. Und natürlich kann man auch bundesweit schauen, ob man bei Abläufen was anpassen kann - aber das befreit die sächsischen Sicherheitsbehörden nicht von ihrer Verantwortung in diesem Fall."
Die Ausschüsse des Landtages in Dresden tagen heute hinter verschlossenen Türen. Ob die Probleme des sächsischen Behörden von den Abgeordneten offen angesprochen werden, wird die Öffentlichkeit zunächst nicht erfahren. Aber eines ist jetzt schon klar: Zu besprechen gibt es genug, in Dresden.