Suizid-Fall al Bakr:Sächsische Fehleinschätzungen

73 % der Deutschen

erwarten in nächster Zeit nach dem aktuellen "Politbarometer" einen terroristischen Anschlag. Allerdings ist die Furcht in der Bevölkerung durch die Ereignisse in Chemnitz nicht größer geworden, denn im Juli hatten nach den Anschlägen von Nizza noch 77 Prozent auch mit Attentaten in Deutschland gerechnet. SZ

Auch Kanzlerin Merkel lässt mitteilen, bei der Behandlung des Terrorverdächtigen im Gefängnis sei etwas "schiefgelaufen".

Von Wolfgang Janisch, Berlin/Dresden

Nach dem Selbstmord des mutmaßlichen Attentäters Dschaber al-Bakr im Leipziger Gefängnis geraten Politik und Behörden in Sachsen immer stärker unter Druck. Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte am Freitag vollständige Aufklärung. In dem Gefängnis sei offensichtlich etwas "schiefgelaufen", und es habe Fehleinschätzungen gegeben, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. "Wichtig ist, dass gründlich untersucht wird: Was ist falsch gelaufen? Was ist falsch eingeschätzt worden?" Die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), forderte in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe bundesweite Regelungen im Umgang mit Terrorverdächtigen. Es gebe offenbar Regionen in Deutschland, die den Herausforderungen solcher Terrorszenarien nicht gewachsen seien.

Sachsens Ministerpräsident Tillich, der sich am Donnerstag noch klar hinter seinen Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) gestellt hatte, räumte am Freitag Fehler ein. Den Vorwurf eines "Staatsversagens" wies er aber als zu weitgehend zurück. "Der Suizid hätte verhindert werden müssen, in jedem Fall", sagte Tillich im Bundesrat in Berlin. Es hätten "andere Maßstäbe bei uns in der Justiz angelegt werden müssen". Sachsens Behörden müssten sich künftig besser auf den Umgang mit Häftlingen mit einem Täterprofil wie im Fall des Syrers vorbereiten. Es sei auch zu prüfen, ob Gesetze und Vorschriften angepasst werden müssten.

Dschaber al-Bakr war am Montag in Leipzig festgenommen worden, am Mittwochabend strangulierte er sich in seiner Zelle. Dies bestätigte am Freitag seine Obduktion. Nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz hatte der anerkannte Flüchtling einen Sprengstoffanschlag auf einen Berliner Flughafen geplant. In der zweiten Septemberhälfte soll er eine Nacht in der Hauptstadt verbracht und eine Kontaktperson getroffen haben. Das berichten der RBB und die Berliner Morgenpost. Den entscheidenden Hinweis bekamen die deutschen Sicherheitsbehörden von einem US-Geheimdienst. Dieser soll mehrere Telefongespräche von Al-Bakr mit einem Kontaktmann der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien abgehört haben. Darin soll es nach Recherchen der Welt am Sonntag auch um die Sprengstoff-Herstellung gegangen sein: "Zwei Kilo sind fertig", soll Al-Bakr seinem IS-Kontakt mitgeteilt haben. Bundesinnenminister Thomas de Maizière kommentierte den Suizid al-Bakrs derweil mit kritischem Unterton. Die Aufklärungsarbeiten seien noch nicht abgeschlossen, sagte der CDU-Politiker in Wiesbaden. "Ich kann Ihnen versichern, dass die Verantwortlichen in Sachsen selbst genau am besten wissen, dass noch viel Arbeit vor ihnen liegt."

Hätte ein zügigeres Einschreiten des Generalbundesanwalts das Fiasko verhindert? Die Bundesanwaltschaft hatte die Ermittlungen gegen al-Bakr am Sonntagmorgen übernommen. Nachdem der Syrer nach seiner Festnahme am Montag zunächst bei der polizeilichen Vernehmung ausgesagt, aber beim Haftrichter die Aussage verweigert habe, habe für die Bundesanwaltschaft kein Anlass bestanden, sich in die Vernehmung einzuschalten - zumal sein Verteidiger angekündigt habe, al-Bakr werde keine Angaben machen. Und selbst wenn ein Bundesanwalt an der Vernehmung teilgenommen hätte, wäre er dazu nach Leipzig gefahren. Auch ein Haftbefehlsantrag des Generalbundesanwalts - der vermutlich in diesen Tagen gestellt worden wäre - hätte al-Bakr nicht aus dem sächsischen Justizvollzug herausgenommen: Man hätte den Verdächtigen dem Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe vorgeführt und danach wieder in ein sächsisches Gefängnis gebracht. Nach Angaben des Sprechers wird Untersuchungshaft am Ort des zu erwartenden Strafprozesses vollzogen. Die Bundesjustiz verfüge nicht über eigene Vollzugsanstalten.

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