Wahlen in Südkorea:Stillstand oder Rechtsruck

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Cho Kuk (l.) bei einer Wahlkampfveranstaltung in Seoul. (Foto: Ahn Young-joon/AP)

Seit zwei Jahren irritiert Präsident Yoon Suk-yeol viele Südkoreaner mit seinem autoritären Regierungsstil. Um seine Macht zu begrenzen, will die Opposition ihre Parlamentsmehrheit verteidigen. Aber auch sie hat ihre Abgründe.

Von Thomas Hahn, Seoul

Für den Rentner Lee Jong-chan ist Südkorea in Ordnung gerade. Wenn es anders wäre, hätte er jetzt bestimmt nicht dieses Schild um den Hals, mit dem er vor der Parlamentswahl für die konservative People Power Party (PPP) des Präsidenten Yoon Suk-yeol wirbt.

Lee, 74, steht vor dem Bahnhof von Gaebong im Seouler Bezirk Guro inmitten einer gut gelaunten Menge. Parteiische Stimmungsmusik schallt durch die Lautsprecher. Man schunkelt, man klatscht. Alle Blicke sind auf die Rampe des Wahlkampf-Lasters gerichtet, auf der die PPP-Kandidaten für Guro das Publikum mit mehr oder weniger gelenkigen Tanzbewegungen animieren.

Drei Anhänger der konservativen PPP - in der Mitte Lee Jong-chan. (Foto: Thomas Hahn)

Han Dong-hoon, der Interimsvorsitzende der PPP, ist auch da, mahnt zur Rettung Koreas vor der Opposition und ruft: "Wir müssen keine Kriminellen schützen." Die anderen schon - das ist der Nachsatz, den jeder versteht, auch wenn Han ihn nicht ausspricht. Nach dem Auftritt urteilt PPP-Helfer Lee zufrieden: "Das war eine sehr erfolgreiche Versammlung." Inhaltlich waren die Reden dünn, aber das stört ihn nicht. Sein Hauptargument gegen die Demokratische Partei und andere Anti-Yoon-Kräfte? "Da sind zu viele Verbrecher."

Anschuldigungen statt lösungsorientierte Debatten

Es ist ein Merkmal der südkoreanischen Politik, dass ihre Widersacher mehr Anschuldigungen als Argumente austauschen. Das fällt auch vor der Wahl zum 300-Sitze-Parlament an diesem Mittwoch auf. Gerade die PPP ist das Gegenteil von versöhnlich. Die Nation hätte zwar ein paar lösungsorientierte Debatten nötig, weil neben den üblichen Umwelt-, Wirtschafts- und Sicherheitsfragen weitere Probleme den Tigerstaat bedrängen, etwa die extrem niedrige Geburtenrate. Aber die PPP-Konservativen sind nicht gut im Diskutieren. Yoon, Han und viele andere in der Partei sind frühere Staatsanwälte, also Profis im Anklagen, und so machen sie auch Politik.

Seit Mai 2022 ist Yoon im Amt und irritiert Demokratie-Verfechter mit einer Innenpolitik, die streikende Arbeiter kriminalisiert und bei kritischem Investigativ-Journalismus Hochverrat wittert. Gleichzeitig kann Yoon nicht regieren, wie er will, weil die Demokratische Partei (DP) bei der vorigen Parlamentswahl im April 2020 eine deutliche Mehrheit gewann; sie profitierte seinerzeit von der weltweit gelobten Coronavirus-Bekämpfung der südkoreanischen Regierung unter Präsident und DP-Mann Moon Jae-in.

Wenn die PPP verliert, bleibt Yoon bis zum Ende seiner Amtszeit 2027 ein Präsident mit eingeschränkter Macht. Mit seinem Vetorecht kann er dann zwar Gesetzesinitiativen der DP abschmettern, aber kaum einen eigenen Gesetzentwurf durchbringen. Stillstand oder Rechtsruck - darum geht es bei dieser Wahl.

Vielleicht ist Lee Jong-chan auch deshalb so gut gelaunt, weil er Stillstand immer noch besser findet als eine liberale Regierung. Er sagt, er habe früher die DP gewählt, aber dann waren ihm die Demokraten zu nett zu Nordkorea. "Da bin ich zurück zu den Konservativen." Lee schätzt Yoon für seine Härte gegen das aufrüstende Regime in Pjöngjang und seine Nähe zu den USA. Er war früher Export-Manager, er scheint es sich leisten zu können, Außenpolitik wichtiger zu nehmen als zum Beispiel Rentenpolitik; Altersarmut ist verbreitet in Südkorea.

Die Prominenz der liberalen Parteien hat Probleme mit Justiz und Moral

Aber alle, die gesellschaftlichen Fortschritt wollen, quält Yoons Regierungsstil. Ihre Wut drückt sich zum Beispiel im Zuspruch für die liberale, alternative Rebuilding Korea Party (RKP) aus, die der frühere Justizminister Cho Kuk Anfang März gegen die "Diktatur der Staatsanwälte" gegründet hat. Und natürlich will auch die DP des gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Lee Jae-myung von der Anti-Yoon-Stimmung profitieren.

Das Problem ist nur: Die liberale Prominenz hat Konflikte mit Gesetz und Moral. Die Konservativen breiten das genüsslich aus. Und es wäre zu einfach, das nur als Kampagne abzutun, wie das DP-Chef Lee erst am Dienstag bei seinem nächsten Gerichtstermin wieder machte, als er klagte, Yoon versuche, "oppositionelle Kräfte niederzuschlagen".

Die Korruptionsvorwürfe gegen Lee Jae-myung aus dessen Zeit als Bürgermeister von Seongnam fanden manche Fraktionsfreunde so überzeugend, dass sie im September mit den Konservativen dafür stimmten, Lees Immunität als Abgeordneter aufzuheben; er wäre ins Gefängnis gewandert, wenn ein Gericht den Haftantrag der Staatsanwaltschaft nicht als unbegründet zurückgewiesen hätte. Und Cho Kuk von der RKP kämpft gerade vor dem Obersten Gerichtshof gegen die zweijährige Gefängnisstrafe, die im Februar ein Gericht im Berufungsverfahren bestätigte; Cho soll Unterlagen gefälscht haben, um seinen Kindern begehrte Studienplätze zu verschaffen, und einst seinen Einfluss als Präsidialamtssekretär missbraucht haben.

Wer ist unschuldig? Wem geht es wirklich ums Land? Es ist ein Aspekt der Krise in Südkorea, dass diese Fragen im Raum stehen. Und die Oppositionsführer wissen, dass sie gegen die Zweifel Getreue benötigen, die sich vor sie stellen. Lee Jae-myung scheint die DP entsprechend aufgestellt zu haben. "Sie handelt oft wie eine Ein-Mann-Partei oder ein politischer Schutzschild", sagte der frühere Vize-Regierungschef Lee Nak-yon, als er im Januar die DP verließ, um seine eigene Partei zu gründen.

Die RKP darf im Wahlkampf keine Mikros und Lautsprecher benutzen

An einer Straßenecke im Tagesverkehr des Seouler Nord-Distrikts Eunpyeong parkt ein Wahlkampf-Laster der DP. Personal in blauen Jacken steht drum herum, damit die vorbeiziehenden Autofahrer und Passanten die DP nicht übersehen. Die wenigen Zuhörer werden mitgerissen, als ein Wirtschaftsprofessor eine kreischende Rede mit Gesangseinlagen hält. Der DP-Kandidat Kim Woo-young ist als Redner deutlich braver. Aber beim Interview wird klar, warum Lee Jae-myung ihm die Kandidatur im Wahlkreis Eunpyeoung B anvertraute.

DP-Kandidat Kim Woo-young hält vom Wahlkampf-Laster aus eine Rede. (Foto: Thomas Hahn)

Freundlich antwortet Kim an der Frage vorbei, wie die DP mit ihren internen Konflikten umgeht. "Wegen der fehlgeschlagenen Reformpolitik des vorigen Präsidenten konnten die Leute nicht anders, als das Monster namens Yoon Suk-yeol zu wählen", sagt Kim. Parteifreund und Ex-Präsident Moon ist also schuld am Schlamassel? "Wir haben uns nicht genug dafür entschuldigt und reformiert", fährt Kim fort, "jetzt schaffen wir eine Atmosphäre, in der die DP besser sein kann."

Cho Kuks RKP wirkt ausgeglichener als Lees DP. Sie hat ein progressives Programm und führt einen angenehm ruhigen Wahlkampf. "Es geht nicht darum, wer am lautesten schreit", sagt die RKP-Kandidatin Jina Nam, 29, vor einem Auftritt Cho Kuks am Bahnhof Cheongnyangni in Seoul-Dongdaemun.

Jina Nam (l.), hier zusammen mit einer Unterstützerin, kandidiert für die neue liberale Partei "Rebuilding Korea Party" (RKP). (Foto: Thomas Hahn)

Allerdings wäre die Partei wohl schon lauter, wenn es ihr gesetzlich erlaubt wäre. Die RKP stellt keine Direktkandidaten, sondern will nur über die Zweitstimmen ins Parlament. "Deshalb dürfen wir keine Mikros und Lautsprecher benutzen", erklärt Jina Nam. Seltsame Regel. Immerhin wirkt Cho Kuk damit wie ein bodenständiger Anführer. Aber ist er das wirklich, wenn man die vielen Vorwürfe bedenkt? "Er hat sich schon oft öffentlich entschuldigt und er wird dem folgen, was immer das Gericht entscheidet", sagt die treue Nam.

Die Konkurrenten vergleichen sich mit Hitler

Chos Geschichte steht für den Machtkampf um Südkoreas Demokratie. Er, der feingliedrige frühere Rechtsprofessor, wurde unter Moon Jae-in zur Symbolfigur einer Justizreform, die den Staatsanwälten ihre Allmacht nehmen sollte. Yoon Suk-yeol war damals Generalstaatsanwalt. Aus Wut über die Reform ging er später in die Politik, aber davor war er es, der die Ermittlungen gegen Cho einleitete. Man kennt sich also nicht nur, man ist verfeindet, und Cho will mit der RKP da weitermachen, wo diese Feindschaft begann. "Wir wollen Gerechtigkeit ins politische System bringen", sagt Jina Nam.

Cho Kuk tritt pünktlich in den Halbkreis, den seine Anhänger vor dem Bahnhof gebildet haben. Die Leute skandieren seinen Namen und hören angestrengt zu, wenn er spricht, damit sie ihn auch ohne Mikrofon verstehen. Tags zuvor hat PPP-Chef Han über Cho Kuk gesagt: "Es war wie ein Witz, als Hitler auftauchte. Aber Ihr solltet nicht lachen." Der Vergleich mit dem deutschen Nazi-Diktator ist eine unerträgliche Übertreibung, Cho greift sie auf. Er ruft: "Bin ich wie Hitler?" - "Nein!", antwortet die Menge. "Wer führt sich am ehesten wie Hitler auf?" - "Yoon Suk-yeol!" Dann sagt Cho Kuk: "Ich finde, es ist am wichtigsten, das Land dazu zu bringen, eure Stimmen wichtiger zu nehmen als meine." Jubel, Applaus.

Nach dem Auftritt eilt Cho über den Platz rüber zum Bahnhof. Anhänger folgen ihm, hasten die Stufen neben der Rolltreppe zu den Gleisen hoch, um noch ein Foto von ihm zu erhaschen. Der umstrittene Cho Kuk ist ihre Hoffnung. Auch das zeigt, dass Südkorea nicht in Ordnung ist gerade.

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