Streit um EU-Spitzenämter:Coup des Parlaments

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Mit großer Kaltschnäuzigkeit wird in der EU das Machtgefüge verschoben. Die Durchsetzung Junckers als Kommissionspräsident ist ein plumper Missbrauch der europäischen Institutionen - und das zu einem gefährlichen Zeitpunkt.

Ein Kommentar von Stefan Kornelius

Es gehört zu den Mythen europäischer Politik, dass die Gemeinschaft immer dann zu großen Reformen in der Lage war, wenn sie unter enormem Druck stand. Dieser Mythos wurde zumindest in den vergangenen Jahren gründlich widerlegt. Richtig ist indes, dass es die Gemeinschaft immer wieder schaffte, an den großen Wegmarken ihrer Geschichte die falsche Richtung einzuschlagen - bei den Verträgen von Maastricht und Nizza, im Verfassungskonvent.

Was der Europäischen Union jetzt aber widerfährt, ist ein historisches Novum. Wenn am Freitag der ehemalige Luxemburger Regierungschef Jean-Claude Juncker für das Amt des Kommissionspräsidenten nominiert werden sollte, dann wird eine Machtverlagerung zwischen den europäischen Institutionen zementiert, die ohne Parallele ist.

Mit Kaltschnäuzigkeit wird die Macht in der EU neu verteilt

Vorausgegangen waren weder eine Verfassungsdebatte noch nationale Parlamentsbeschlüsse noch hitzige Auseinandersetzungen zwischen den Regierungschefs. Europa ändert sein Verfassungsgefüge, und niemand will es gemerkt haben. Man weiß nicht, was mehr irritiert: die Kaltschnäuzigkeit, mit der dieser Coup über die Bühne geht, oder das achselzuckende Desinteresse daran.

Es gehört zum politischen Ton gerade in Deutschland, "mehr Europa" gut zu finden. Deswegen wird es als Gewinn im Sinne von "mehr Europa" und einem "demokratischeren Europa" verstanden, wenn der Kommissionspräsident mithilfe einer Art Direktwahl bestimmt wird. Hier endet dann die Diskussion, und nur wenige machen sich die Mühe, nach der Substanz dieser Formel zu fragen.

Europas Verfassungsgefüge zwingt aber zu einer tiefer gehenden Analyse. Natürlich stehen die Institutionen - der Rat der Regierungschefs, die Kommission und das Parlament - in einem unausgewogenen Verhältnis zueinander. Natürlich ist das Demokratie-Defizit Europas seit Jahren Gegenstand berechtigter Klage. Natürlich kann man argumentieren, dass jeder Sieg des Parlamentarismus - egal wie errungen - Europa guttun wird.

Überall mehren sich die Vorzeichen politischer Verrohung

Die politische Stimmung in Europa entspricht aber nicht der postnationalen Befindlichkeit, die besonders in Deutschland die Emotionen leitet. Überall in Europa trifft die Gemeinschaftsidee auf massiven Widerstand. Überall regen sich die Geister des Nationalismus und des Populismus - Vorzeichen einer politischen Verrohung, der das so wertvolle wie komplizierte Europa wenig entgegenzusetzen hat.

In dieser Zeit also leistet sich das politische Europa so etwas wie einen Verfassungs-Coup und krönt ihn mit der Nominierung eines Kommissionspräsidenten, der trotz großer Verdienste in der Vergangenheit nicht der richtige Mann für die Zukunft des Kontinents ist. Ist das klug?

Jean-Claude Juncker hat immer und immer wieder vor der Entscheidungsmacht Deutschlands gewarnt; vor der mangelnden Sensibilität kleineren Ländern gegenüber. Welche Ironie, dass dieser Mann nun an die Spitze der Kommission gehoben wird mithilfe des Hebels Spitzenkandidat, der in Deutschland ersonnen und durchgesetzt wurde. Nirgendwo fand die Idee dermaßen starken Anklang. Aber auch nirgendwo (außer in Großbritannien) regte sich nennenswerter Widerstand gegen das Verfahren - auch in Resignation vor der Macht Deutschlands.

Letztlich geht es um Merkels Macht

Welche Ironie, dass die deutsche Kanzlerin als stille Kritikerin des Verfahrens und selbst des Kandidaten nun machtlos dieser Verschiebung der Kräfte zusehen muss. Angela Merkel hat in der Euro-Krise die Bedeutung der Nationalstaaten im europäischen Gefüge schätzen gelernt.

Plötzlich kann sie so wenig gestalten wie nie zuvor in ihrer Kanzlerschaft. Sie zu schwächen ist das wichtigste Ziel vieler Akteure im Besetzungsspiel. Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, dass die deutsche Dominanz und die Reformpolitik gebrochen werden mithilfe einer Kommission, die ihre Existenz allein dem Parlament und seiner taktischen Finesse verdankt.

Solches Kalkül schadet Europa. Selten zuvor wurden die Institutionen derart plump für das Machtspiel missbraucht. Die Rechnung mag nicht aufgehen: Auch das Parlament hat seine Unabhängigkeit verpfändet, indem es etwa die Besetzung des Präsidentenpostens im Hohen Haus mit allen anderen Personalien verknüpfte. Eine Kommission von Gnaden der Parlamentsparteien wird ihre Aufsichts- und Gestaltungskraft nicht entfalten können. Der Rat wird sie misstrauisch belauern und dem Parlament wie dem Kommissionspräsidenten deren Chuzpe nicht verzeihen.

Eigentlich steckt die EU tief in der Krise. Institutioneller Reformeifer hat sich daraus nicht entwickelt. Gewachsen ist lediglich die Lust am großen Theater.

© SZ vom 26.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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