Die Mahnung kam kurz vor Weihnachten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte verfassungsrechtliche Zweifel an einem Last-Minute-Gesetz der vormaligen Koalition geäußert, und zwar an der Reform der Wiederaufnahme abgeschlossener Strafprozesse. Unter anderem bei Mord, so steht es nun im Gesetz, soll der rechtskräftige Freispruch eines Verdächtigen nachträglich gekippt werden können, wenn zum Beispiel eine heiße DNA-Spur auftaucht.
Dies könnte gegen das grundgesetzliche Verbot verstoßen, dass niemand wegen derselben Tat mehrmals vor Gericht gestellt werden darf, warnte Steinmeier. Zudem sah er Probleme wegen der rückwirkenden Geltung des Paragrafen - fertigte das Gesetz aber gleichwohl aus. In diesen Tagen folgte die Reaktion des neuen Bundesjustizministers Marco Buschmann (FDP): "Ich persönlich halte es für richtig, dass wir uns die Frage noch mal vornehmen", so lässt er sich von der Deutschen Presse-Agentur zitieren.
Dass der Minister den Ball aufnimmt, ist politisch naheliegend, jedenfalls dann, wenn sich die FDP wieder dezidierter als rechtsstaats-liberale Partei konturieren will. In rechtlicher Hinsicht ist es geradezu zwingend, das umstrittene Projekt einer neuerlichen Prüfung zu unterziehen. Schon vor Steinmeiers Intervention waren die verfassungsrechtlichen Zweifel mit Händen zu greifen. Selbst das Bundesjustizministerium unter Buschmanns Vorgängerin Christine Lambrecht (SPD) hatte zu Protokoll gegeben, das Grundgesetz lasse kaum Spielraum für eine solche Reform. Mit dem halben Veto des Bundespräsidenten - der, weil er nun mal kein Ersatz-Verfassungsgericht ist, nur wirklich handfeste Bedenken artikuliert - war klar: Sollte das Gesetz in Karlsruhe überprüft werden, würde das ein ganz schwerer Gang.
Wurzeln bis ins römische Recht
Denn die von den Rechtspolitikern Jan-Marco Luczak (CDU) und Johannes Fechner (SPD) vorangetriebene Reform war nicht weniger als ein Tabubruch. Die Wurzeln des Rechtsprinzips, dass niemand zweimal wegen ein und derselben Sache verfolgt werden darf ("ne bis in idem"), reichen bis ins römische Recht. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gehört es zum festen rechtsstaatlichen Arsenal. Dass der Staat nur einen Versuch hat, um einen Verdächtigen hinter Gitter zu bringen, zieht ihm eine fundamentale Grenze; kaum etwas greift existenzieller in das Leben der Bürger ein als Strafverfolgung. 1949 schrieb man das Doppelbestrafungsverbot ins Grundgesetz, weil sich die Nazis natürlich nicht darum geschert hatten.
Freilich haben es sich auch die Reformer nicht leicht gemacht. Erstens sollte der neue Paragraf nur für schwerste, unverjährbare Verbrechen gelten - Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen. Zweitens liegen die Hürden hoch: Nicht jede neue Spur soll genügen, um einen rechtskräftigen Freispruch ins Wanken zu bringen, sondern nur Beweise, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Verurteilung führen.
Trotzdem sprachen Kritiker wie der Berliner Rechtsprofessor Helmut Aust von einem "Freispruch unter Vorbehalt" und warnte von einer Jagd nach "Cold Cases". Auch DNA-Ergebnisse brächten keineswegs immer die gewünschte Gewissheit. Noch schärfer formuliert Stefan Conen vom Deutschen Anwaltverein: "Die Regelung erlaubt die Wiederaufnahme von Verfahren zuungunsten Freigesprochener in einer Beliebigkeit, welcher die Mütter und Väter des Grundgesetzes nach 1945 ein Ende bereiten wollten und bereitet haben."
Muss es der Bundestag richten?
Doch trotz Buschmanns Vorstoß ist keineswegs klar, ob das Ministerium selbst einen Gesetzentwurf verfasst. Zwar ist seine Position ziemlich eindeutig: Das Gesetz stelle ein erhebliches Problem dar, sodass "man sich schon die Frage stellen muss, ob hier nicht sogar die Verfassung verletzt ist". Allerdings will er sich da nicht so sehr als Minister äußern; dies sei seine Auffassung "als Abgeordneter und Rechtspolitiker".
Soll heißen: Vielleicht muss es ein Gesetzentwurf aus dem Bundestag richten. Dort würden jedenfalls die Grünen mitziehen, das hat deren Fraktionsvize Konstantin von Notz bereits signalisiert. Die SPD hingegen, im vorigen Bundestag Miturheberin des umstrittenen Gesetzes, hält sich alle Optionen offen. Er halte das Gesetz immer noch für richtig, teilte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dirk Wiese mit. Aber "wir nehmen das Schreiben des Bundespräsidenten sehr ernst und werden zeitnah das Gespräch mit Fachleuten suchen".