Sie erheben den Anspruch, einen Gottesstaat zu errichten - mit einem einzigen weltlichen Herrscher über alle Muslime: Am 29. Juni 2014 ruft die Terrorgruppe "Islamischer Staat im Irak und der Levante/Syrien" (Isis) das Kalifat aus. Sie erklärt den Iraker Abu Bakr al-Baghdadi zum Kalifen. Sie ändert ihren Namen in "Islamischer Staat" - beeindruckt von ihrem eigenen raschen Vormarsch in Syrien und im Irak. Werden die Gotteskrieger weitere Regionen erobern und ihren Einfluss auf andere Länder ausweiten?
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Ein Blick auf die Bereiche, die das "Kalifat" im Irak heute umschließt, deutet eine andere Entwicklung an. Der IS übernehme und festige seine Macht "im begrenzten geografischen Raum eines einzelnen Nationalstaates", schreibt bereits im Juli vergangenen Jahres Yezid Sayigh vom Carnegie Middle East Center in Beirut. In jenem Raum, "in dem seine eigentliche soziale Basis liegt". Gemeint ist eine Art Nationalstaat dort, wo im Irak überwiegend arabische Sunniten leben.
Es spricht viel dafür, dass der Wissenschaftler recht behält. Der Machtbereich des selbst ernannten sunnitischen "Kalifen" entspricht im Irak jetzt schon längere Zeit fast exakt denjenigen Regionen, in denen vor allem arabisch-sunnitische Stämme leben.
Von schiitischen Arabern oder von Kurden dominierte Gebiete gehören kaum dazu. Und die Grenzen des "Kalifats" - beziehungsweise die Fronten - gehen durch Regionen, in denen neben den sunnitischen auch viele schiitische Araber, sunnitische Kurden und andere Bevölkerungsgruppen leben. In Syrien ist die Lage zwar unübersichtlicher. Doch ein Zusammenhang zwischen der religiösen und ethnischen Zugehörigkeit mit dem Grenzverlauf des IS ist auch hier offensichtlich.
Innerhalb seiner Grenzen ist es dem "Kalifat" gelungen, straff organisierte Strukturen zu schaffen, mit Gerichtsbarkeit, eigenen Finanzquellen, einem ausgefeilten Sozialsystem inklusive Krankenversicherung. Das belegten Dokumente aus den Jahren 2013 und 2014, die bei dem Anfang Juni erschossenen "Kriegsminister" des IS, Abdel Rahman al-Bilawi, entdeckt wurden. Auch das spricht dafür, dass eine gewisse "soziale Basis" existiert, von der Sayigh schreibt.
Doch die Erklärung, dass sich die irakischen Sunniten die Religion mit den Terroristen teilen, ist zu einfach. Eine wichtige Rolle spielt auch die Stammeskultur. Das belegt eindringlich die aktuelle Entwicklung in der sunnitischen Stadt Tikrit, wo lokale Stämme sich entscheiden müssen, ob sie den IS unterstützen oder die Offensive der Armee.
Insgesamt existieren im Irak ungefähr 150 Stämme, die sich in etwa 2000 Clans und weiter in Unterclans aufspalten, die von Scheichs angeführt werden. Und die meisten Angehörigen fühlen sich ihrem Stamm stärker verbunden als jeder anderen Gruppe, Organisation oder gar einer nationalen Regierung in Bagdad.
Ein Versuch, die Entstehung des IS vor diesem Hintergrund zu verstehen, kann mit dem Regime von Saddam Hussein und seinem Sturz durch die US-Armee 2003 beginnen.
Anfang März 1991 rebellieren die Schiiten in den Städten Nadschaf und Kerbela südlich von Bagdad gegen die Herrschaft Saddam Husseins. Der zweite Golfkrieg ist gerade vorüber, die Truppen des Diktators sind von einer Militärallianz unter Führung der USA besiegt und aus Kuwait verjagt worden. Die Schiiten, die trotz ihrer deutlichen Bevölkerungsmehrheit von dem Sunniten Saddam unterdrückt werden, sehen die Gelegenheit gekommen, gegen den verhassten Herrscher aufzubegehren. Doch die erwartete Unterstützung durch die Amerikaner bleibt aus. Die irakische Armee schlägt den Aufstand blutig nieder.
Die Stunde der Schiiten kommt zwölf Jahre später: Nach dem Sturz des Diktators 2003 durch eine weitere Allianz unter Führung der USA ist der Weg für sie frei, mit der ersten freien Wahl 2005 sind sie am Ziel. Die irakische Regierung wird von Schiiten dominiert.
Schon in diese Zeit geht der Ursprung des "Islamischen Staates" zurück. 2004 gründet der sunnitische Jordanier Abu Musab al-Sarkawi den irakischen Ableger von al-Qaida ( AQI), um gegen die US-Soldaten und die Schiiten zu kämpfen.
Der Terrororganisation gelingt es, viele Iraker auf ihre Seite zu ziehen - darunter sunnitische religiöse Extremisten, aber auch Anhänger des gestürzten Saddam-Regimes. Al-Qaida verübt aufsehenerregende Anschläge auf die Amerikaner, auf Schiiten und ihre Heiligtümer sowie auf gemäßigte Sunniten. Nach dem Bombenanschlag auf den Askari-Schrein und die Goldene Moschee in Samarra im Februar 2006 kommt es zum Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten.
Selbst Osama bin Laden ist Sarkawis Vorgehen im Irak zu hart. Das geht aus Dokumenten hervor, die nach dem Tod des Al-Qaida-Chefs entdeckt werden. Kein Wunder, dass Sarkawis Versuch, die sunnitischen Stämme auch mit Gewalt - etwa durch die Ermordung von Stammesführern - unter seine Kontrolle zu zwingen, scheitert. Im Sommer 2006 tun sich in der Provinz Anbar insgesamt 25 der 31 sunnitischen Stämme zusammen, um gegen die Terroristen vorzugehen.
US-General David Petraeus gelingt es, diese Koalition namens " Sahwa" (Erwachen) zu Verbündeten zu machen. Die USA bezahlen die auch als " Söhne des Irak" bezeichneten Stämme für den Kampf gegen al-Qaida. Und unter denen, die Geld kassieren, sind auch Iraker, die zuvor gegen die Amerikaner und sogar für al-Qaida gekämpft haben.
Im Oktober 2006 verbündet sich al-Qaida im Irak zwar noch mit sechs sunnitischen Stämmen sowie weiteren Gruppen von Aufständischen zur Mutayibeen-Koalition. Al-Sarkawis Nachfolger Abu Ayyub al-Masri, ein Ägypter, ändert die Strategie gemeinsam mit einem weiteren mutmaßlichen Anführer der Gruppe, dem Iraker Abu Omar al-Baghdadi: mehr Zusammenarbeit statt gewaltsamer Kontrolle.
Gemeinsam mit ihren neuen Verbündeten rufen sie den "Islamischen Staat im Irak" (ISI) aus. Zu ihren Anhängern zählt offenbar auch der jetzige "Kalif" Abu Bakr al-Baghdadi mit Angehörigen seines Stammes in Samarra und der Provinz Diyala.
Doch die Mutayibeen-Koalition scheitert. Den sunnitischen Stämmen der "Erwachten" gelingt es gemeinsam mit US-Truppen und Regierungssoldaten, die Terrororganisation ISI und ihre Verbündeten zurückzudrängen. Die militärische Lage stabilisiert sich bis 2008. Die Gewalt geht drastisch zurück.
"Der Tod dieser Terroristen ist wahrscheinlich der bedeutendste Schlag, den al-Qaida im Irak seit Beginn des Aufstandes einstecken musste." So kommentiert US-General Raymond Odierno im April 2010 eine Operation der US-Truppen und irakischen Soldaten, bei der die zwei Anführer der Terrorgruppe sterben. Nach zwei Jahren, in denen ISI aus dem Verborgenen heraus weiter Anschläge verübt hat, ist die Organisation auf einen Schlag ohne Kopf. Doch nicht lange. Der neue Anführer steht schon bereit: Es ist Abu Bakr al-Baghdadi.
Den Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien 2011 betrachtet al-Baghdadi dem Politikwissenschaftler Jochen Hippler von der Universität Duisburg-Essen zufolge als Gelegenheit, seinen Einflussbereich erneut auszuweiten. Er organisiert die Al-Nusra-Front unter einem syrischen Anführer. Dann entschließt er sich im April 2013, ISI und al-Nusra als " Islamischer Staat im Irak und der Levante/Syrien" (Isis) neu zu organisieren. Der neue Name belegt den erweiterten Machtanspruch.
Die Al-Nusra-Front und die Al-Qaida-Führung in Pakistan wenden sich jedoch gegen Isis. Für al-Baghdadi ist es ein verkraftbarer Rückschlag, denn der Isis erhält starken Zulauf durch islamistische Kämpfer aus Syrien und dem Ausland. Mit brutaler Gewalt übernimmt er die Kontrolle in weiten Teilen der Gebiete, die al-Nusra und andere Aufständische bereits erobert haben. Nun beschließt al-Baghdadi mit seiner Gruppe unter dem neuen Namen " Islamischer Staat" (IS), auch im Irak wieder offensiver vorzugehen. Er profitiert davon, dass sich dort der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten wieder verschärft hat.
Der Sold der Amerikaner hatte manche "Söhne des Irak" überzeugt, gegen al-Qaida zu kämpfen. 2008 versiegt für viele der Geldstrom, als die Regierung die Kontrolle und die Bezahlung der "Sahwa"-Milizen übernimmt. Etliche Stammeskrieger werden entlassen, die übrigen von der Regierung in Bagdad vernachlässigt.
Die Regierung des schiitischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki hat wenig Interesse an einer stärkeren Rolle der Sunniten - weder politisch noch militärisch. Schon 2010 berichtet die New York Times, dass Hunderte Sahwa-Kämpfer ihren Dienst für die Regierung nicht mehr antreten. Al-Qaida/ISI bemüht sich angeblich mit Erfolg darum, sie mit einem besseren Sold anzuwerben.
Nach dem Abzug der US-Truppen aus dem Irak 2011 wird die Situation für die "Söhne des Irak" noch schwieriger. Ministerpräsident Maliki verfolgte zum Ausbau seiner Macht "eine zusehends konfessionell geprägte Politik, die sunnitische Bevölkerungsgruppen und Führungspersönlichkeiten marginalisierte", schreibt der Politikwissenschaftler Jochen Hippler.
Als Raubzug einer korrupten Elite von Bagdad bezeichnet auch Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin die Entwicklung im Irak. Maliki habe versucht, jegliche Beteiligung von Sunniten und Säkularisten an der Regierung zu verhindern. Hochrangige sunnitische Regierungsmitglieder wurden nach und nach kaltgestellt. Und dass die schiitische Islamische Republik Iran großen Einfluss auf Malikis Regierung in Bagdad nimmt, dürfte den Sunniten ebenfalls nicht gefallen.
Der Aufstand der Sunniten in Syrien 2011 befeuert den Widerstand gegen die irakische Regierung. Seit 2012 kommt es in vielen Städten wie Mossul, Kirkuk, Tikrit und selbst Bagdad zu friedlichen Demonstrationen von Sunniten für mehr politischen Einfluss und mehr Arbeit. Besonders groß sind die Proteste in den sunnitischen Städten Ramadi und Falludscha. Protestcamps werden errichtet. Wieder hat die Regierung dort und in Mossul keine echte Kontrolle mehr.
Für Premier Maliki sind die Demonstranten allerdings nur Terroristen und Anhänger der Baath-Partei von Ex-Diktator Hussein. Die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften werden immer stärker von Gewalt geprägt. Bei Zusammenstößen zwischen Sunniten und Schiiten sterben nach Angaben der UN allein 2013 insgesamt etwa 7800 Menschen.
Der Konflikt bildet für al-Baghdadi die Gelegenheit, seinen Einfluss im Irak auszuweiten. Und die islamistischen Terroristen setzen nun offenbar stärker auf die Zusammenarbeit mit den verbitterten sunnitischen Interessengruppen - den sunnitischen Stämmen und den im Untergrund noch immer aktiven Baathisten. Von den Regierungsgegnern sehen offenbar viele im IS einen Verbündeten gegen die Schiiten - selbst wenn sie selbst keine religiösen Fundamentalisten sind.
Berichte aus den von IS-Kämpfern eroberten Städten wie Ramadi oder Falludscha - Mossul wurde vom Isis sogar schon 2013 weitgehend kontrolliert - deuten darauf hin, dass die IS-Kämpfer sich anfänglich in die Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den lokalen Stammeskriegern und Baathisten einmischen.
Wegen der Erfolge der kriegserfahrenen Terrormiliz schließen sich ihnen zunehmend Kämpfer an oder verbünden sich mit ihnen gegen den gemeinsamen Feind. Viele Sunniten dürften einfach erleichtert sein, den Druck durch die Regierung in Bagdad los zu sein. Selbst der Scheich Emir Ali Hatim al-Suleiman vom Duleimi-Clan - einem der wichtigsten im Irak - bestätigt Zeit online zufolge, dass Angehörige seines Stammes mit IS-Kämpfern gegen die Regierung kämpfen.
Wo die Sicherheitskräfte besiegt, massakriert oder verjagt werden, gelingt es den IS-Anführern offenbar, die politische und religiöse Kontrolle zu übernehmen. Dabei setzt der IS nicht alle lokalen Stammesführer mit Gewalt ab, sondern bemüht sich offenbar, einige als lokale Autoritäten in die politischen Strukturen des "Islamischen Staates" zu integrieren. Da die sunnitischen Stämme in erster Linie an ihre Stammesinteressen denken, und sich weniger für die Integrität eines irakischen oder syrischen Nationalstaates interessieren, haben viele mit einem Gebilde wie dem IS offenbar kein prinzipielles Problem.
Offen ist allerdings, wie groß die Bereitschaft der irakischen Bevölkerung ist, sich nun dem wachsenden Druck der islamistischen Extremisten zu beugen, die Dieben die Hände abschlagen lassen wollen, Anders- oder vermeintlich Ungläubige in großer Zahl exekutieren und Frauen in die Häuser verbannen.
Einige sunnitische Stämme haben sich jedenfalls gegen die Machtübernahme des IS gestellt - und müssen dafür erleben, dass Hunderte ihrer Angehörigen massakriert werden. Sie bekämpfen den IS, selbst wenn sie damit die verhasste Regierung in Bagdad unterstützen. Bereits Ministerpräsident Maliki war auf sie zugegangen und hatte einige Stämme mit Waffen und Munition versorgen lassen. Die neue Regierung, die seit September 2014 unter dem schiitischen Ministerpräsidenten Haidar al-Abadi im Amt ist, hofft ebenfalls auf den Widerstand der Stämme. Seit einiger Zeit sind auch die Amerikaner wieder im Gespräch mit Vertretern von Stämmen, die bereits als "Sahwa"-Koalition in den Jahren 2006 bis 2008 die Vorgänger des IS geschlagen hatten.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar sagte Ministerpräsident Abadi, in der Provinz Anbar seien bereits 4000 sunnitische Stammeskämpfer im Einsatz gegen den IS. Auch an der Offensive, mit der Bagdads Soldaten die Stadt Tikrit vom IS befreien wollen, sind sunnitische Milizen beteiligt. Ministerpräsident Abadi hat den lokalen Clans, die den IS bislang noch unterstützen, eine Amnestie versprochen, wenn sie sich gegen den "Kalifen" und seine Leute wenden.
Entgegen kommt ihnen dabei, dass der "Islamische Staat" mit seiner Schreckensherrschaft und den ständigen Kämpfen offenbar zunehmend auch die Loyalität von Menschen verliert, die ihn bisher unterstützt oder zumindest als Alternative zu Bagdad ausgehalten haben. Dafür sprechen die brutalen Repressionsmaßnahmen, auf die der IS inzwischen sogar gegen eigene Leute zurückgreift. So sollen mindestens 120 eigene Kämpfer bereits als Deserteure hingerichtet worden sein.
Doch es gibt ein großes Problem: Die Regierungstruppen werden von teils brutalen schiitischen Milizen unterstützt. In Gebieten, die der Kontrolle des IS entrissen wurden, haben Angehörige solcher Milizen unter Sunniten bereits Massaker angerichtet.
"Wir wissen, dass es sunnitische Stammesführer gibt, die den IS nicht mögen", sagte Nahost-Experte Kenneth Pollack von der US-Denkfabrik Brookings Institution dem Magazin Time. "Aber es gibt andere sunnitische Scheichs, die die schiitischen Milizen mehr fürchten als den IS." Die Haltung der Stämme sei langfristig ausschlaggebend. Wenn die die Besetzung Tikrits durch die Armee nicht akzeptierten, würden sie kämpfen - allein oder gemeinsam mit dem IS. "Das wäre katastrophal für den Irak. Dann würde eine Kampagne der Regierung gegen den IS zu nichts anderem führen als zu einem Krieg zwischen schiitischen und sunnitischen Milizen."