Sozialdemokratie:Holzmichls Partei

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Willy Brandt am Abend seiner Wahl zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler vor 50 Jahren. Aus seiner ersten Regierungserklärung stammt der bekannte Satz (Foto: dpa)

"Mehr Demokratie wagen": Ja, die SPD lebt noch, ein wenig. Was braucht sie, fünfzig Jahre nach Willy Brandts Regierungserklärung von 1969, für einen neuen Anlauf?

Kolumne von Heribert Prantl

Die SPD ist 156 Jahre alt, ihren heutigen Namen trägt sie seit 1890. Sie ist also noch viel älter als der alte Holzmichl, über den in einem berühmten Volkslied viele Strophen lang gerätselt wird, ob er noch lebt. Dieser Frage folgt dann jeweils ein jubelnder Ruf mit einem mächtigen "Jaaaah, er lebt noch". Dieses Holzmichl-Lied ist ein Stimmungslied, das geeignet ist, auch dröge Menschen zu begeistern; besonders wenn die Zuhörerinnen und Zuhörer bei der Textzeile "Ja, er lebt noch" beide Arme in die Luft reißen und so ins Geschehen einbezogen werden.

So stellt sich das auch die SPD vor. Sie hat bei der Bundestagswahl im Jahr 2017 das schlechteste Ergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg erzielt und sie sinkt in den Umfragen immer weiter. Über sie wird daher gesagt, dass sie dem Tod näher sei als dem Leben. Aber sie ist, trotz sehr fallender Mitgliederzahlen, immer noch die größte Partei in Deutschland. Und in den vergangenen Wochen hat sie erfahren und erspürt, dass sie noch lebt: Die Vorstellungstour der Kandidatinnen und Kandidaten für den Parteivorsitz war der Versuch, 23 Strophen des Holzmichl-Lieds für die SPD zu singen: "Ja, sie lebt noch". Und es hat gut geklappt: An 23 Orten hat diese Vorstellungsveranstaltung stattgefunden, an der kleinsten Veranstaltung, in Sachsen-Anhalt, haben 120 Leute teilgenommen, an der größten zweitausend. Es war dies ein anrührendes Erlebnis für eine Partei, von der zu Unrecht gesagt wird, dass sich bei ihr gar nichts mehr rührt.

Nun muss man wissen, dass die zwanzigtausend begeisterten Besucher der Kandidaten-Vorstellungsrunde nur einen kleinen Bruchteil der immer noch 430 000 SPD-Mitglieder ausmachen, die derzeit über die künftigen Parteichefs abstimmen dürfen. In einer Woche steht das Ergebnis fest, dann wird wohl eine zweite Mitgliederbefragung mit einer Stichwahl notwendig sein. Eindeutige Favoriten gibt es nicht. Wenn auf den Veranstaltungen das Duo aus Norbert Walter-Borjans, dem früheren NRW-Finanzminister, und der Bundestagsabgeordneten Saskia Esken umjubelt worden ist, besagt das nicht so viel. Die Jusos haben zur Wahl dieses Duos aufgerufen; es heißt, dem Juso-Chef Kevin Kühnert sei der Posten des SPD-Generalsekretärs versprochen worden.

Borjans/Esken sind freilich für viele Mitglieder nur halbbekannte Kandidaten, ebenso die Duos Pistorius/Köpping und Roth/Kampmann. Der einzig allbekannte Kandidat ist der in der Vorstellungsrunde viel kritisierte Olaf Scholz. Er gilt als Kandidat des Weiter-so, die anderen stehen für Aufbruch und Risiko. Aber ist nicht das Weiter-so das wirkliche Risiko? Willy Brandt würde wohl der langwierigen Wahlprozedur applaudieren - weil sie sich ausnimmt wie ein Exempel für seinen berühmten Satz "Mehr Demokratie wagen". Es ist dies ein Schlüsselsatz aus der ersten Regierungserklärung Brandts vom 28. Oktober 1969. Zwei Tage nach der Bekanntgabe des Ergebnisses der SPD-Mitgliederabstimmung über die neuen Parteichefs wird dieser Satz 50 Jahre alt. Er wird heute mit leuchtenden Augen zitiert, als handele es sich um die Auszüge aus der Bergpredigt der Moderne: "Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, sondern wir fangen damit erst richtig an." Dazu hat dann freilich der Radikalenerlass der Regierung Brandt von 1972 absolut nicht gepasst, mit dem linke Postboten, Lehrer und Eisenbahner aus dem Staatsdienst entfernt wurden. War das "Mehr Demokratie wagen"?

Eine gute Demokratie ist mehr als ein Urnen-Ritual. Sie ist eine Werte-Gemeinschaft

Damals erkannte kaum jemand diese Sätze als Schlüsselsätze einer sozialliberalen Epoche. "Progressive Trompetenstöße sind ausgeblieben", schrieb di e Saarbrücker Zeitung. Und über dem Leitartikel der Süddeutschen Zeitung stand nicht "Manifest des Neubeginns" sondern "Mit Vorsicht voran". Die Verherrlichung von Brandts Regierungserklärung begann erst nach dem Amtsantritt von Kohl, als dieser seine verspottete erste Rede über die "geistig-moralische Wende" gehalten hatte: Seitdem ist "Mehr Demokratie wagen" ein sozialdemokratisches Leitwort.

Die ausgiebige Abstimmungsprozedur, wie sie gerade zur Kür der neuen SPD-Führung stattfindet, kann ein neuer Einstieg sein in "Mehr Demokratie wagen". Dieser alte Spruch könnte animieren zu neuen kraftvollen Formulierungen; zum Beispiel: "Mehr Umverteilung wagen". So geht man in die Kontroverse und besetzt das Thema Ungleichheit. Eine gute Demokratie muss ja mehr sein als ein Urnenritual. Sie ist eine Wertegemeinschaft. Sie muss die Grundrechte achten; sie muss die Armen aus der Armut führen; sie muss darauf achten, dass jeder und jede wirklich Bürgerin und Bürger sein kann. Die SPD braucht, wenn sie aufleben will, eine Führung, die mehr soziale Demokratie wagt und hinter der sich die Partei samt der unterlegenen Bewerber sammelt. Ihr wird es gelingen müssen, wieder als Verkörperung der Sozialstaatlichkeit verstanden zu werden. Es müssen neue Geschichten geschrieben werden - Geschichten über Kinder mit migrantischen Wurzeln, geboren in Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh, die den Hubertus-Heil-Weg, den Franziska-Giffey-Weg oder den Sahra-Wagenknecht-Pfad gehen und es bis zur Ministerin oder Kanzlerin bringen können.

Mehr soziale Demokratie wagen: Es gibt einen überquellenden Reichtum in der Gesellschaft; aber es ist leider nur der Reichtum von wenigen. Verantwortungsbewusste Sozial- und Gesellschaftspolitik muss ihn abschöpfen. Umverteilung ist kein sozialistischer Restposten, kein Sozialklimbim, kein Gedöns; sie ist ein demokratisches Gebot. Das beginnt mit der Neuregelung von Erbschaft- und Vermögensteuer. So kann es gelingen, für annähernd gleiche Lebenschancen zu sorgen. So kann man soziale Grundsicherung finanzieren. Ein Sozialstaat gibt nicht dem, der schon hat; er nimmt nicht dem, der wenig hat. Er schafft ausgeglichene Lebensverhältnisse; er sorgt für lebenswerte Wohnungen und für Arbeitsverhältnisse, bei denen man sich nicht von Befristung zu Befristung hangelt. Es geht um eine Umverteilung auch von Zeit, die dann mehr Raum lässt fürs Private und die sozialen Bindungen. Wenn der Sozialstaat so funktioniert, ist er Heimat für die Menschen. Das ist das Rezept gegen den populistischen Extremismus. Das wäre, das ist "Mehr Demokratie wagen", zweiter Teil.

© SZ vom 19.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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