Das Politische Buch:Das doppelte Missverständnis der SPD

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Ein Sieg, an den nicht sehr viele glaubten - außer ihm selbst. Olaf Scholz am Wahlabend des 26. September 2021. (Foto: Daniel Lakomski/Imago)

Der Historiker Dietmar Süß analysiert den "seltsamen Sieg" von Olaf Scholz 2021 und attestiert der Sozialdemokratie der Spätmoderne eine "Überlast der Geschichte".

Von Claus Leggewie

Wenige Tage nach der gewonnenen Landtagswahl in Niedersachsen lag dieses Buch punktgenau auf den Büchertischen. Die SPD gewann dank ihres Amtsinhabers Stephan Weil trotz moderater Verluste und kann eine politische Landestradition fortsetzen, die seit 1946 fast ununterbrochen sozialdemokratisch geprägt war. Anlass dieser Zeitdiagnose des Augsburger Sozial- und Zeithistorikers Dietmar Süß war der "seltsame Sieg" von Olaf Scholz bei der Bundestagswahl 2021. In Umfragen weit abgeschlagen, stieg der wenig charismatische Hamburger zur Überraschung auch der eigenen Partei zum umjubelten Bundeskanzler auf.

Genosse Trend zeigt abwärts, seit Jahrzehnten

Diese positiven Ausschläge konterkarieren aber kaum den langen Abwärtstrend seit den Siebzigerjahren; in Prozentpunkten ist auch die SPD wieder in den Fünfzigerjahren angekommen. Selten konnte sie die strukturelle Vormacht der Adenauer-Kohl-Merkel-Union durchbrechen, und das auch nur wegen deren zeitweiliger personellen und programmatischen Ermattung. Genosse Trend steht den Sozis schon lange nicht mehr bei.

Dieser Trend orientiert sich nicht an Slogans wie "Respekt", Persönlichkeiten, Kampagnen ("Schulz-Zug") und demoskopischen Konjunkturen, sondern am Wandel der mittel- und langfristigen Konflikt- und Spaltungslinien der Gesellschaft, die weniger von volatilen Stimmungen und Identitätsentwürfen geprägt ist als von Klassen und Schichten. Das doppelte Missverständnis der Sozialdemokratie, legt Dietmar Süß in zehn schlanken und gut lesbaren Kapiteln nahe, bestand nicht nur in Deutschland darin, dass sie sich mit dem Schrumpfen ihrer proletarischen Basis den Aufsteigern in die Mittelschicht zuwandte, dabei das Sicherheitsversprechen des Wohlfahrtsstaates aufrechterhielt, dieses dann mit radikalen Hartz-Reformen selbst dementierte und gleichwohl an der dementierten Fortschrittsrhetorik festhält.

Das Misstrauen der Abgestiegenen

Eine "Überlast der Geschichte" konstatiert Süß, der Sympathien für das sozialmoralische Milieu der alten Sozialdemokratie nicht verbirgt. Ein neues sozialdemokratisches Jahrzehnt (oder gar Jahrhundert, wie eine global ausgerichtete Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung) ruft er zum Glück nicht aus.

Denn prekär Beschäftigte, Alleinerziehende, Empfänger von Transferleistungen und andere vulnerable Gruppen konnten mit der Scharping-Schröder-Gabriel-Schulz-SPD wenig anfangen. Sie blieben den Wahlurnen fern und liefen zum Teil teils zur Linken und dann vor allem in Ostdeutschland zur AfD über. Sie glauben der SPD nicht mehr, dass am Ende alles besser werden wird; sie misstrauen dem "Mehr Demokratie wagen" eines Willy Brandt, da sie sich selbst kaum noch repräsentiert fühlen, und auch dessen Ost- und Entspannungspolitik, die innerparteiliche Konflikte lange übertünchen konnte. Das Mantra der SPD, man könne über Bildung für alle alles erreichen, wird täglich widerlegt.

Diese Last der Geschichte, deren Fortschritts- und Solidaritätsversprechen dogmatisch hochgehalten werden, verhindert eine zupackende Klima- und Umweltpolitik, ebenso eine "zeitenwendengemäße" Außen- und Sicherheitspolitik, und auch die kämpferische Auseinandersetzung mit der radikalen, in Teilen faschistischen Rechten. Für das Hin und Her ist die Pandemiepolitik typisch. Und dass ein sozialdemokratischer Bundeskanzler seine Richtlinienkompetenz an der Spitze der von ihm ausgerufenen "Fortschrittskoalition" geltend machen muss, und das wiederum so zögerlich tut, erscheint als ein Symbol dafür, dass das ephemere Comeback der SPD die deutsche Politik noch nicht wirklich vorangebracht hat.

Dietmar Süß, Der seltsame Sieg. Das Comeback der SPD und was es für Deutschland bedeutet. Verlag C.H. Beck Verlag, München 2022. 223 Seiten, 18 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Mit Ratschlägen, wie sich das ändern und die SPD womöglich wieder in die Offensive kommen könnte, hält sich der Autor zurück. Süß lässt durchblicken, dass er das Wort "Klassenkonflikte" in den Mund nehmen würde und eine Demokratieinitiative der Partei erhofft. Das ist ehrenwert, verkennt aber, was die Sozialdemokratie in ihrem Spagat zwischen "Aufsteigern" und "Abgehängten" weltweit verloren hat: Klimawandel und Artensterben zerstören ihre industrielle Basis, die Wiederkehr der imperialen Politik ihre Friedens- und Entspannungspolitik und der demografische Wandel ihren Appeal für jüngere Generationen und homines novi. Das Versprechen an die classes populaires, sie könnten dem Pfad der Wohlstandsvermehrung und Selbstverwirklichung folgen und meritokratisch zu den oberen zehn Prozent aufschließen, ist an objektive Schranken gelangt.

Die meisten Sozialdemokraten beschwören somit eine Welt von gestern, während die Welt von morgen überaus schmerzhafte Korrekturen verlangt. Und genau darin könnte die paradoxe Chance der SPD bestehen: Wenn sie - eher contre coeur - eine "protektive Technokratie" (Philipp Staab) schaffte, die den Aufsteigern den Leistungsdruck abnimmt und den Abgestiegenen mehr Sicherheit verleiht. Die multiplen Krisen der Gegenwart deuten genau in diese Richtung.

Claus Leggewie ist Politikwissenschaftler und Inhaber der Ludwig-Börne-Professur an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

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