Man muss kein großer Psychologe sein, um zu erahnen, was in Olaf Scholz seit Samstagabend vorgeht. Er ist erleichtert. Er kann durchatmen und weiter hoffen, dass alles so bleiben könnte, wie es ist. Er hat es mit seiner Politpartnerin Klara Geywitz in die Stichwahl geschafft, und das sorgt bei vielen erstmal für Beruhigung. Scholz hat nicht verloren, muss nicht in Sack und Asche gehen und sich also auch - noch - nicht fragen, ob er als Vizekanzler und Finanzminister Abschied nehmen muss. Gewonnen aber hat er mit dem Votum noch nichts.
Das gilt auch für die Kanzlerin, die CDU und überhaupt alle, die auf eine Fortsetzung der Koalition setzen. Angela Merkel, Annegret Kramp-Karrenbauer und die CDU, aber auch Kabinettsmitglieder wie Franziska Giffey und Hubertus Heil dürfen hoffen, dass ihre Welt so bleibt, wie sie gerade ist. Und das, keine Frage, ist für den Augenblick die wichtigste Botschaft. Wäre Scholz in Runde eins gescheitert, dann wäre schon am Samstag kurz nach 18 Uhr das Überlegen und Spekulieren losgegangen, wann denn und wie die Koalition ihr Ende erreicht haben würde. Darauf mögen sich ein paar wenige innerlich schon eingestellt haben: die allermeisten aber und auf alle Fälle die beiden Koalitionsparteien sind für dieses Szenario keineswegs vorbereitet.
Sicher sein kann sich niemand. Knapp 23 Prozent für das Duo Scholz-Geywitz und 21 Prozent für die Zweitplatzierten Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken - die Zahlen zeigen gleich zweierlei: dass das Rennen verdammt knapp bleiben wird - und dass es Scholz bislang nicht geschafft hat, sein Image als Chef-Technokrat der Partei loszuwerden.
Dieses Image mag ein bisschen übertrieben und gemein sein. Aber solange es ihm nicht gelingt, die Partei noch einmal ganz neu für sich zu gewinnen, wird ein knapper Sieg keine echte Kraft entfalten. So schwer es ihm fallen mag - will Scholz der SPD tatsächlich ganz neu Schwung geben, müssen die Menschen viel stärker spüren, dass es ihm mit seinem jetzigen Einsatz ernst ist.
Scholz muss rüber bringen, dass er alles zu geben bereit ist. Er muss die Menschen spüren lassen, dass er die SPD nicht nur übernehmen, sondern auch neu aufstellen möchte. Und er muss das in einer Art tun, die keinen Zweifel daran lässt, dass er sie zur neuen alten großen Alternative neben der Union machen will. Das muss der Anspruch sein; alles andere wäre das finale Eingeständnis, sich als Volkspartei selbst nicht mehr Ernst zu nehmen.
"All in!" - so nennt man das im Poker. Genau das muss Scholz vorleben; genau das müssen die SPD-Mitglieder spüren. Ob er, der nüchterne Hanseat, das kann, weiß er nur selbst. Aber in einer Zeit, in der mit der AfD mindestens große Teile einer fürs erste etablierten Partei das demokratische System direkt attackieren, reicht es nicht, sich in den alten, klassischen Bahnen zu bewegen. Man könnte auch sagen: In gewisser Weise muss Scholz sich neu entwerfen.
Die Konkurrenz hat es da viel leichter. Jedenfalls die innerhalb der SPD. Norbert Walther-Borjans und Saskia Esken haben nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Und genau das merkt man beiden bislang an. Trotzdem ist auch für sie das Vorspiel vorbei. Jetzt wird es ernster, als vielleicht auch die beiden gedacht haben. Deshalb müssen ab jetzt auch sie mehr zeigen.
Es ist keine nette, fröhliche Sympathie-Werbe-Runde mehr. In den kommenden Wochen geht es um die Zukunft der SPD und vielleicht auch die der Demokratie in Deutschland. Bislang sind Esken und Nowabo, wie Walter-Borjans intern genannt wird, zwar frech und keck aufgetreten, aber haben noch lange nicht die Wucht Bandbreite an Positionen entfaltet, die sie bräuchten, um die SPD aus den Niederlagen zu führen.
Die Union ist abhängig davon, was die SPD macht
Dass mit den diesen beiden Paaren sich ab jetzt zwei duellieren, die tatsächlich für unterschiedliche Konzepte und eine unterschiedliche Herangehensweise an die Groko stehen, muss kein Fehler sein. Im Gegenteil. Die SPD muss Entscheidungen fällen, sie darf nicht mehr alles gleichzeitig wollen. Man kann nicht in der Koalition sein und unentwegt über sie hinaus wollen. Man kann das Dabeisein nicht als etwas Gutes begründen und zugleich unentwegt über den Ausbruch nachdenken. Hü oder hott - der Beschluss muss gefasst werden.
Und die Union? Sie ist nicht zum ersten Mal abhängig davon, was die SPD macht. Das scheint unausweichlich zu sein und wirkt für die stärkste Koalitionspartei trotzdem wie ein Armutszeugnis. Es passt freilich gut zum Zustand der Christdemokraten. Sie haben kein Machtzentrum mehr, sie haben derer viele - und das Ist die denkbar schlechteste Voraussetzung für einen Wahlkampf. Hier die angeschlagene Parteichefin im Verteidigungsministerium, da die von den CDU-Nöten weithin losgelöste Kanzlerin, dort der sich gut organisierende Jens Spahn - um nur einige zu nennen.
Aus diesem Grund könnte es sein, dass in der Union manche derzeit still und leise für etwas werben, was die Kanzlerin, so ist es dieser Tage zu hören, bislang kategorisch ausgeschlossen hat: eine Minderheitsregierung. Damit verbunden wäre - sollte die SPD am Ende tatsächlich ausbrechen - vor allem ein Gewinn an Zeit. Eine Zeit, die gerade die CDU dringend bräuchte, um sich auf eine Formation für den Wahlkampf zu verständigen. Und weil das alles andere als leicht sein würde in diesen Tagen, könnte nach der SPD-Stichwahl eine neue Lage entstehen - mit einer SPD, die ihre Führung dann kennt, und einer CDU, die darum noch mühsam ringen müsste.
Nein, noch ist nicht viel passiert. Die SPD-Mitgliederbefragung hat nur einen Zwischenstand geliefert. Und dazu einen, der nicht viel aussagt. In sechs Wochen aber kann die Welt anders aussehen. Und nicht nur die SPD ist darauf bislang nicht vorbereitet.