Tritt Bundesinnenministerin Nancy Faeser bei der Landtagswahl im kommenden Herbst in Hessen als sozialdemokratische Spitzenkandidatin an? In ihrer Partei gilt quasi als ausgemacht, dass sie als künftige Ministerpräsidentin kandidiert. Dies bestätigten der Süddeutschen Zeitung führende Sozialdemokraten aus Hessen, die die Debatte aber zum jetzigen Zeitpunkt mit öffentlichen Äußerungen nicht weiter befeuern wollen. Nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf Bundeskanzler Olaf Scholz. Ein SPD-Erfolg in Hessen würde zwar auch ihn stärken. Zunächst mal aber hat jede Entscheidung Faesers Folgen für die Statik der Ampel, die im Kanzleramt kalkuliert werden müssen.
Dabei ist die Entscheidung wohl so gut wie gefallen. In der Hessen-SPD, so ist von Insider-Seite zu hören, gingen "alle davon aus, dass sie das macht". Auch eine andere Person erklärte, "natürlich" werde Faeser die Spitzenkandidatur übernehmen. Eine dritte Person mit Einfluss in Hessen erklärt, Faeser müsse allenfalls noch die Details "mit Scholz" besprechen. Für Scholz geht es dabei nicht nur um Faeser, sondern das größere Bild des Kabinetts.
Und die Geschlechterparität im Kabinett?
Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) steht in der Kritik, weil die von Scholz versprochene Zeitenwende in der Bundeswehr nur schleppend ankommt. Die Juristin fremdelt nach wie vor mit der Truppe. Ihr wurden lange Fluchtgedanken in Richtung Innenressort nachgesagt. Die hat sie mittlerweile dementiert. Mit dem niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius (SPD) stünde zwar womöglich ein überzeugender Nachfolger für Faeser bereit. Das aber brächte die von Scholz verfügte Geschlechterparität im Kabinett in Gefahr. Größere personelle Umbauten im Kabinett wären zwar denkbar, entsprechen aber nicht unbedingt den Neigungen des Kanzlers.
Aus hessischer SPD-Sicht ist das ohnehin nicht die erste Sorge. Die Genossen dort bauen darauf, dass der Wahlkampf für die Landtagswahl ganz auf Faeser zugeschnitten werden kann. Mitte November traf sich die Parteiführung des Bundeslandes unter Faeser zu einer Klausur in Bebra und kürte die innere Sicherheit zu einem der großen Wahlkampfthemen. Dass es nicht die Innenministerin und Landesvorsitzende selbst sein soll, die damit Wählerstimmen sammelt, glaube niemand mehr im eigenen Landesverband, sagt ein führender Genosse.
Auch der Zeitplan der Kandidatenkür und mangelnde Alternativen lassen in Hessen die Erwartung immer größer werden, dass Faeser antritt und versuchen wird, die erste Ministerpräsidentin des Bundeslands zu werden. Für den 3. und 4. Februar hat die Partei einen "Hessengipfel" im osthessischen Friedewald angesetzt. Faeser will sich kurz zuvor zu ihrer Bereitschaft äußern. "Man kann ausschließen, dass sie den Wahlkampfstart mit der eigenen Absage vermasseln wird", sagt ein Mitglied der SPD-Fraktion im Landtag.
Zumal wirkliche Alternativen fehlen. Will die SPD den Rückstand zur Union in Umfragen von zuletzt fünf Prozentpunkten noch aufholen, braucht sie zugkräftiges Personal. Fraktionschef Günter Rudolph gilt als wenig charismatisch. Andere führende SPD-Politiker bräuchten erst mal Zeit, um im ganzen Land bekannt zu werden. "Damit könnten wir nicht erst im Februar beginnen", heißt es in der SPD. Träte Faeser nicht an, gilt der Wahlkampf in den eigenen Reihen als verloren.
Könnte Faeser während der Kandidatur Innenministerin bleiben?
Dennoch bleiben Fragen: Kann Faeser noch Innenministerin bleiben, wenn sie in Hessen als Spitzenkandidatin antritt? Und wenn ja - wie lange? Müsste sie den Wählern zusagen, auch im Fall einer Niederlage nach Wiesbaden zu wechseln - und dann ganz ohne Amt dazustehen? Die Konstellation erinnert an die Kandidatur des damaligen Bundesministers Norbert Röttgen (CDU) in Nordrhein-Westfalen. Röttgen war als Umweltminister Spitzenkandidat geworden. Er wollte sich nicht festlegen, nach einer Wahlniederlage nach Düsseldorf zu wechseln. Röttgen scheiterte 2012 krachend - auch weil ein Bekenntnis fehlte. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) warf ihn anschließend aus dem Kabinett.
Das zumindest ist ein Schicksal, das Faeser eher nicht fürchten muss. Aus dem Kanzleramt sind keine Klagen zu hören über die Arbeit Faesers. Mit einem Verbleib der Hessin in Berlin nach einer Niederlage hätte der Kanzler wohl kein Problem. Andere dagegen vermutlich schon. Zwar würden ihre eigenen Leute, jene zumindest mit Wurzeln in Hessen, es gerne sehen, wenn Faeser zumindest über große Teile des Wahlkampfes Innenministerin bliebe. Die Leute müssten "sich vorstellen können, das wird die nächste Ministerpräsidentin". Das einflussreiche Amt würde ihr jederzeit eine größere Bühne bieten, als sie sie als Wahlkämpferin aus der Opposition in Hessen heraus derzeit bekäme.
Umgekehrt könnte es die Bundespolitikerin Faeser angreifbar machen: Hat sie dann noch genügend Zeit, ihrer Aufgabe als Innenministerin nachzukommen? Die Razzia bei den Reichsbürgern hat gerade erst gezeigt, wie sehr der Rechtsstaat unter Druck geraten ist. Umsturzpläne, wie sie bekannt wurden, erfordern eine Innenministerin, die bei der Sache ist. Als Halbtagsjob ist das Ministerium nicht zu führen.
Schon jetzt zeichnet sich außerdem ab, dass die Konkurrenz in Hessen ein klares Bekenntnis einfordern wird. Und zu der zählt nicht nur die CDU, sondern auch der Berliner Ampelpartner, die Grünen. Denn deren Spitzenkandidat und Wirtschaftsminister in Hessen, Tarek Al-Wazir, liegt in Umfragen bislang gleichauf mit der SPD. Auch die Grünen haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, den künftigen Ministerpräsidenten zu stellen. Eine wahlkämpfende Innenministerin? Bei den Grünen wäre man verschnupft, wenn Faeser den Amtsbonus nutzt.
Auch mehrere Sozialdemokraten, mit denen die SZ gesprochen hat, sind sich einig, dass Faeser mit der Kandidatur klarmachen müsste, auch im Falle einer Niederlage nach Hessen zu wechseln. "Ich würde ihr eine klare Aussage für Hessen empfehlen", sagt eine Person, die dem Bundesvorstand der SPD angehört. Noch aber stehen ohnehin ganz andere Themen auf Faesers Agenda. Am Mittwoch musste sie bei zwei Auftritten im Bundestag Rede und Antwort zur Reichsbürger-Razzia stehen. "Sie macht das gut", sagt ein SPD-Landesfunktionär aus Hessen. "Ihr klarer Kurs wird ihr im Wahlkampf sicher helfen."