Der "liebe Udo" hat jetzt das Wort. Eben hatte Katarina Barley noch von Europa geschwärmt: als dem Ort, wo sich Träume erfüllten. Nun muss sie zuhören, wie der Mann neben ihr von einem Europa redet, das seine "Zukunft zu verpennen" droht. Er schimpft über die Europäer, die "zu dumm" seien, dem wachsenden Einfluss Chinas in der Welt etwas entgegenzusetzen. So geht das die ganze Zeit.
Sie wolle die "leisen Töne", sagt Barley. "Haut rein!", sagt hingegen der "liebe Udo". So nennen sie auf dem Podium Udo Bullmann, Barleys Parteikollegen. Er, 62, ist Europaabgeordneter der SPD und Fraktionschef der europäischen Sozialdemokraten. Barley, die Bundesjustizministerin, und Udo Bullmann, sind jetzt ein Duo. Die SPD hat sich entschieden, mit einer Doppelspitze in die Europawahl im Mai zu ziehen. An diesem Tag in Bremerhaven präsentiert sie die Beiden vor Betriebs- und Personalräten. Die SPD will über Solidarität reden und über Europa. Fischbahnhof heißt dieser Veranstaltungsort. An der Decke hängen Skelette von Walfischen, die Kiefer aufgerissen.
Barley will das Positive an Europa herausstellen, angesichts der vielen Schlechtmacher. Sie führt ihren britischen Vater an, dem das Studium in England verwehrt geblieben war, weil er nur ein "kleiner Bauernsohn" gewesen sei und der dann nach Deutschland kam und hier seinen Weg ging. Das ist ihre Linie im Wahlkampf: ein Herz für Europa, großes Gefühl.
Sie scheint von Posten zu Posten zu schweben. Er rackerte sich überall hin
Die Kandidatenliste kennt das Prinzip Doppelspitze so nicht. Es gibt dort Platz 1, und es gibt Platz 2. Aber in der SPD hat man es gern etwas komplizierter. Bei der Präsentation der Zwei hatte SPD-Chefin Andrea Nahles gesagt: "Das wird ein gutes Doppel." Sie sei sich aber mit Bullmann "schnell einig" gewesen, dass Barley "die beste Wahl" sei. Barley bezeichnet sich selbstbewusst als die "Nummer 1", sie hat ja auch den ersten Listenplatz. Bullmann besteht auf Gleichrangigkeit, nur drückt er das raffinierter aus: Für Europa treten seiner Auffassung nach an: Barley, die "deutsche Europäerin", weil sie eben auch den britischen Pass besitzt und ihre Kinder Großeltern aus vier EU-Ländern haben. Und er, Bullmann, der "europäische Deutsche" - seit 20 Jahren der Mann der SPD im Europaparlament. Die Wähler werden ihn auf Platz zwei der Liste finden.
Barley ist Spitzenkandidatin, weil die Partei bei dieser Wahl mal etwas anders machen wollte. Und zugleich ist Bullmann ein bisschen Spitzenkandidat, weil die SPD dann doch nicht wirklich aus ihrer Haut kann. Die Unterschiede zwischen beiden? So beträchtlich, dass die Partei eigentlich zwei Wahlkämpfe führt. Als Barley im Dezember gekürt wurde, hatte sie klar gemacht: "Ihr wisst das, ihr kennt mich. Ich bin nicht so die Lautsprecherin." Andere "abzumeiern", das sei nicht ihre Art, Politik zu machen. Nur: Dann hat ihr die Partei einen Lautsprecher an die Seite gestellt: Bei der Präsentation meierte der "liebe Udo" umgehend die Christdemokraten ab. Er fragte provozierend in den Raum: "Sind die Schwarzen zuverlässig, wenn die Braunen wieder marschieren?" Wenn sie zusammen auftreten, wird deutlich, dass sie nicht nur gegensätzlich sind. Sie konterkarieren einander.
Was hat sich Nahles gedacht, diese beiden zusammenzuspannen? Steckt ein Plan dahinter? Beide sprechen unterschiedliche Wähler an. In Bremerhaven kriegt der politische Holzhacker in manchen Momenten von den Betriebsräten sogar mehr Applaus als Barley. Aber macht das allein ein gutes Team aus? Wenn Barley irgendwo auftaucht, dauert es nicht lange, bis ihr Publikum entzückt ist. Bei Bullmann muss oft zunächst geklärt werden: Udo wer? Laut einer Umfrage, die in der Parteizentrale herumgereicht wird, kennen 87 Prozent der Befragten ihn nicht.
Barley geht mit bemerkenswerter Leichtigkeit durch die Politik. 2013 wurde sie in den Bundestag gewählt. Seither scheint sie von Posten zu Posten zu schweben. 2015 machte der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel sie zur Generalsekretärin. In der Parteizentrale beeindruckte Barley die Machtmänner. Sie nannten sie "die Elfe", die trotz Stress für den Ausgleich sorgte. "Alle Menschen lieben sie. Niemand durfte ein böses Wort verlieren", erinnert sich einer. In der kurzen Zeit von Martin Schulz geriet sie unter Druck. Sie hatte keine Erfahrung darin, Wahlkämpfe zu führen. Geschadet hat ihr das nicht. Als überraschend Familienministerin Manuela Schwesig den erkrankten Erwin Sellering als Ministerpräsidentin in Mecklenburg-Vorpommern ablösen sollte, wechselte Barley im Juni 2017 an die Spitze dieses Ministeriums.
Und Bullmann? Der war schon in Brüssel, als in Berlin noch niemand Barley auf dem Schirm hatte. Es dauerte zehn Jahre, bis er Wirtschaftspolitischer Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion wurde; weitere drei, um die deutschen SPD-Abgeordneten anzuführen. Seit 2018 führt er die Fraktion. Er schwebt nicht von Posten zu Posten, er rackert sich dorthin.
Als Nahles vor knapp einem Jahr die Führung der SPD übernahm, hatte die Partei keinen wirklichen Plan für die Europawahl. Es ist nicht so, dass ihr Vorgänger Martin Schulz keine Vorbereitungen getroffen hätte. Sie standen nur unter anderen Vorzeichen. Schulz war nach der Niederlage bei der Bundestagswahl dabei, die SPD auf Jahre in der Opposition einzustellen. Viel hätte die Partei ihren Spitzenpolitikern nicht mehr zu bieten gehabt. Aber Barley sollte Teil der Zukunft sein. Damals schon soll er Barley angesprochen haben, ob sie die SPD in die Europawahl führen wolle. Aber dann ging die Partei doch wieder in die Regierung. Und Barley machte als Justizministerin weiter. So stand Nahles ohne Kandidatin da. Und Barley zauderte, ihr neues Amt für Europa aufzugeben.
Bullmann kann gut mit der "Doppelspitze" leben
Bullmann ist der Mann, der eigentlich die Spitzenkandidatur für sich beanspruchen konnte: Als Fraktionschef in Brüssel bekleidet er ein mächtiges Amt. Er hat sich den Ruf des Währungs- und Steuerexperten erworben. Bullmann ist kein Träumer. Er weiß um seine Stärken - und Schwächen. Er ist zu wenig charismatisch, um seiner Partei als Spitzenkandidat eine Hilfe zu sein. Bullmann wollte deshalb keine Lösung für sich, sondern eine mit sich. Im Kreis der europäischen Sozialdemokraten hätte er keine Zukunft mehr, wenn seine eigene Partei ihm keine Führungsrolle zutraut. Das war Nahles bewusst.
Bullmann kann gut mit der Lösung der "Doppelspitze" leben. Aber gilt das auch für Barley? Sie geht ins volle Risiko. Bei den Wahlkämpfern im Willy-Brandt-Haus weiß man, dass die Kampagne von Barley lebt, nur von Barley. Sie sei "der Schatz": Erfolgreiche Bundesministerin gibt Posten in Berlin auf für unsichere Zukunft in Brüssel. Dass die SPD diese Wahl ernst nimmt, könnte sie deutlicher kaum unterstreichen. Der letzte wirklich Prominente aus der Bundespolitik, der fürs Europaparlament kandidierte, war Willy Brandt. Er gehörte ihm von 1979 bis 1983 an.
In einem Strategiepapier zur Europawahl heißt es: "Wir können mehr Frauen als Männer als potenzielle Wählerinnen erreichen." Auch bei Jüngeren sieht die SPD gute Chancen. Nimmt sie ihre eigenen Erkenntnisse ernst, dann stellt sich die Frage, ob Bullmann, der Typ mit der Goldkette unter dem aufgeknöpftem Hemd, nicht womöglich zur Last im Wahlkampf werden könnte. Jetzt schon werden die Ressourcen geteilt: Für beide werden Flyer gedruckt. Aber der Etat für die Kampagne wurde trotzdem nicht erhöht.
Offenbar ist die Parteispitze von ihrer Duo-Idee selbst nicht völlig überzeugt. Als die SPD kürzlich ihr Wahlprogramm in Berlin vorstellte, fehlte Bullmann. Er hatte andere Termine. Die Partei plante ohne ihn. Keine große Sache - sagt er. Auch nicht, dass am Abend drauf, wieder ohne Bullmann, Barley in Berlin bei einem Auftritt "einen Austausch über die europäische Idee als Antwort auf die großen Aufgaben der Gegenwart und der Zukunft" führte, wie es in der Einladung hieß. Ein Schlüsseltermin, sagen sie in der Parteispitze.
Es sind jetzt noch drei Monate bis zu Europawahl. Aus beiden Lagern heißt es, B. und B. würden nicht als "siamesische Zwillinge" auftreten. Wie es aussieht, ist der Wahltag aber auch nicht der Schlusspunkt ihrer gemeinsamen Zeit. Mit dem Tag der Wahl sind Bullmann und sie Konkurrenten um Posten. Und nationale Vergangenheit zählt in Brüssel nicht viel. Selbst Regierungschefs haben sich dort schon hinten anstellen müssen. In Brüssel ist Bullmann dann im Vorteil. Dort beherrscht er das Spiel.