Es hätte eine geräuschlose Wahl werden sollen, aber wie es aussieht, kommt es nun anders: SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich steht vor der Aufgabe, einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für Thomas Oppermann im Amt des Bundestagsvizepräsidenten zu finden. Unerwartet war der 66-jährige SPD-Parlamentarier am 25. Oktober in einem Göttinger Krankenhaus gestorben, nachdem er bei Dreharbeiten mit dem ZDF zusammengebrochen war. Der Schock und die Trauer saßen tief bei den Bundestagskollegen. "Niemand von uns war auf diesen Moment vorbereitet", schrieb Mützenich ein paar Tage nach der Trauerfeier im Bundestag an seine Fraktion. Es war der Zeitpunkt gekommen, um über die Nachbesetzung zu reden.
Ginge es nach Mützenich, dann wäre die Sache klar: Er hat sich für Dagmar Ziegler, 60, als Kandidatin ausgesprochen. Er will eine Frau, er will eine Person, die mit Ablauf der Legislatur aus dem Bundestag ausscheidet, um keine Vorfestlegung für die Zeit danach zu treffen. Er will eine Ostdeutsche in diesem Amt. "Die SPD würde sich im 30. Jahr der Deutschen Einheit öffentlich noch stärker zu ihrer gesamtdeutschen Verantwortung bekennen", begründete er in dem Schreiben seine Entscheidung. In gleich drei ostdeutschen Bundesländern werde 2021 gewählt: in Thüringen, in Sachsen-Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern. Ziegler kommt aus Brandenburg. Sie war dort, bevor sie 2009 in den Bundestag kam, zunächst Finanz- und dann Arbeits- und Sozialministerin. In der Fraktion stieg sie schnell auf, mittlerweile gehört sie der parlamentarischen Geschäftsführung an.
Mützenich ist von seiner Kandidatin überzeugt. Das Problem ist nur: Es ist nicht bei einer Kandidatin geblieben. Noch jemand möchte Bundestagsvize werden: die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, 71, aus Aachen. Auch sie hört mit Ablauf der Legislatur im Bundestag auf. Falls nicht noch eine der beiden Frauen auf den letzten Metern zurückzieht, kommt es zur Kampfkandidatur. Eigentlich soll die Fraktion an diesem Dienstag entscheiden. Aber Mützenich befindet sich in Quarantäne, weil er Kontakt mit einer mit dem Coronavirus infizierten Person hatte. Womöglich wird die Wahl noch mal vertagt. Aber irgendwann muss entschieden werden.
Es sei unwahrscheinlich, dass Schmidt erneut verzichten werde, heißt es aus Nordrhein-Westfalen
Auch Schmidt hat Fürsprecher in der Fraktion, vor allem in den Reihen ihres Landesverbandes Nordhrein-Westfalen. Einer davon ist Axel Schäfer, für den es bei dieser Personalie genauso um Gerechtigkeit geht. Denn von 2013 bis 2017 war Schmidt bereits Vizepräsidentin des Bundestages. Sie hätte gerne weitergemacht, aber nach der Wahl 2017 war in der SPD viel in Bewegung: Andrea Nahles hatte Thomas Oppermann an der Fraktionsspitze abgelöst, dieser sollte nun als Vize ins Bundestagspräsidium rücken. Schmidt wehrte sich zunächst, machte aber dann doch Platz für Oppermann. Schäfer sagt, dies sei damals nicht selbstverständlich gewesen und "mehr als nur eine noble Geste". Stand Montag sah es weiter nach einer Kampfkandidatur aus. Aus ihrem Landesverband hieß es, es sei eher unwahrscheinlich, dass Schmidt ein zweites Mal verzichten werde. Dann werde eben eine Wahl zwischen den beiden Frauen die Entscheidung bringen müssen.
Misslich ist die Lage vor allem für Rolf Mützenich. Im Fraktionsvorstand hatte er eine Mehrheit für seine Kandidatin Ziegler organisiert. Das Ergebnis von 18 zu 12 Stimmen deutet aber schon darauf hin, dass es in großer Runde Debatten geben dürfte. Dabei hat er längst Erwartungen geschürt. Der Ostbeauftragte der SPD, Martin Dulig, hält es für "außerordentlich wichtig, dass die ostdeutsche Repräsentation in hohen öffentlichen Ämtern zunimmt", und befürwortet die Kandidatur von Dagmar Ziegler. Er sagt: "Sie ist eine gute Repräsentantin für die gesamte SPD, aber auch für Ostdeutschland und wird die berechtigten Interessen der Ostdeutschen in ihre Arbeit mit einfließen lassen und diese sichtbar machen."
Aber wenn sie am Ende gar nicht die Abstimmung in der Fraktion gewinnt? Fällt Ziegler durch, würde dies genauso eine Niederlage für Mützenich bedeuten. Sein Personalvorschlag wäre dann nicht akzeptiert worden. Verliert Ulla Schmidt, dann müsste sich Mützenich vorhalten lassen, dass es nicht honoriert wird, in entscheidenden Momenten die eigenen Ambitionen zugunsten der Partei zurückzustecken, so wie Schmidt es 2017 getan hatte.