Spanien:Zum Zerreißen gespannt

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Erwartet als Gegenleistung für eine Amnestie, dass separatistisch orientierte Abgeordnete ihm zu einer regierungstauglichen Mehrheit verhelfen: Pedro Sánchez. (Foto: Eduardo Munoz/Reuters)

Erstmals stimmt der Kongress über eine mögliche Regierung ab. Zwei Monate nach den Wahlen ist unsicher, ob und welcher Koalition eine Mehrheit gelingt.

Von Patrick Illinger, Madrid

In der vergangenen Woche erlebte das spanische Parlament ein Novum: Viele Abgeordnete trugen Kopfhörer. Nur mit Übersetzung konnten sie der ungewohnten Sprachenvielfalt in ihrem Hause folgen. Neben dem Spanischen sind seit Donnerstag auch Katalanisch, Baskisch und Galicisch im Parlamentsbetrieb erlaubt.

Die Entscheidung fiel, noch bevor in dieser Woche über eine künftige Regierung abgestimmt wird. Sie ist ein Symptom des erbitterten Machtkampfs. Noch vor gut einem Jahr hatten Spaniens Parlamentarier die Sprachenvielfalt mit 268 zu 71 Stimmen abgelehnt. Nun war es ein Zugeständnis der Sozialisten an die Regionalparteien, und das wühlt Emotionen auf. Als der konservative Abgeordnete Borja Sémper einen Einwurf auf Baskisch machte, quittierten das Parteikollegen mit einem Rüffel. Dabei hatte Sémper auf Baskisch dafür plädiert, beim Spanischen zu bleiben. Es zeigt, wie aufgeladen die Stimmung in Spaniens Politik ist.

Zwei Monate nach den Wahlen vom 23. Juli ist noch immer unklar, welche Regierung angesichts der vertrackten Sitzverteilung im Kongress eine Mehrheit bekommt - und ob überhaupt eine Mehrheit zustande kommt. In der kommenden Woche wird sich der konservative Parteichef Alberto Núñez Feijóo, dessen Partei die meisten Abgeordnetensitze hat, zur ersten Abstimmung stellen. Doch vieles spricht dafür, dass seine Kandidatur scheitern wird. Zwar kann er auf die Unterstützung der ultranationalen Partei Vox zählen, doch auch das reicht nicht. Und die Nähe zu Vox ist zugleich Feijóos größter Hemmschuh: In ein Bündnis mit den extremen Rechten will keine andere Partei einsteigen.

Die Sprachenvielfalt im Parlament nennen die Konservativen "Karaoke"

Sollte Feijóos investidura im Parlament scheitern, wird König Felipe VI. wohl den Sozialisten und amtierenden Regierungschef Pedro Sánchez mit der Regierungsbildung beauftragen. Dies vorwegnehmend spricht Sánchez bereits seit Wochen mit Vertretern fast aller der elf im Kongress vertretenen Parteien und Fraktionen. Um eine Mehrheit der 350 Abgeordneten für sich gewinnen, muss er eine Reihe kleinerer Parteien zur Zustimmung motivieren, und selbst dann würde es knapp werden.

Die Sprachenvielfalt im Parlament, von PP-Chef Feijóo als "Karaoke" beschimpft, war Sánchez erstes Geschenk an die Regionalparteien. Pikant und für viele Spanier empörend an seinem Stimmenfang ist der Flirt mit den beiden nationalistischen Parteien Kataloniens, die mit je sieben Abgeordneten im congreso vertreten sind. Diese fordern, was noch vor wenigen Monaten undenkbar erschien: die Amnestie für die verhafteten und teils ins Ausland geflohenen Betreiber des Abspaltungsversuchs im Herbst 2017, allen voran Carles Puigdemont, sowie mittelfristig ein Unabhängigkeitsreferendum, wie es die spanische Verfassung nicht vorsieht.

Die möglichen Mehrheitsbeschaffer pokern mit Forderungen

Dass Sánchez nun in diesen Fragen verhandelt und in Sachen Amnestie sogar positive Signale aussendet, steht in krassem Widerspruch zu früheren Standpunkten des Sozialisten. Puigdemonts Vorgehen nannte er einst einen "sehr deutlichen" Fall von Rebellion. Zugleich muss Sánchez an weitere Türen klopfen. Auch das fest an seiner linken Seite geglaubte, von der charismatischen Arbeitsministerin Yolanda Díaz angeführte Wahlbündnis Sumar zeigt Risse. Mitglieder der Unidas-Podemos-Partei, die sich in Sumar eingegliedert hatten, pochen neuerdings wieder auf Eigenständigkeit.

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Die potenziellen Mehrheitsbeschaffer überbieten sich wie bei einem Pokerspiel mit Forderungen. Die Frage ist, wie viele von Sánchez Zugeständnissen, Schwenks und Kehrtwenden ihm seine eigene Partei PSOE durchgehen lässt. Doch die Geduld scheint groß zu sein. Die spanische Politik sei so polarisiert, teils hasserfüllt, "dass die Anhänger eines Lagers den eigenen Leuten verzeihen, wenn diese ihr Wort nicht halten", sagt Pablo Simón Cosano, Politikwissenschaftler der Universität Carlos III in Madrid.

Aus Protest, dass nun Reden in Spaniens Regionalsprachen erlaubt sind, verlassen Abgeordnete der rechtspopulistischen Vox das Parlament. (Foto: Eduardo Parra/dpa)

Am Donnerstag meldete ein Umfrageinstitut, dass die Sozialisten aktuell sogar mit steigender Zustimmung rechnen können. Das bedeute nach Einschätzung des Politologen Simón aber nicht unbedingt, dass man mit Sánchez Kehrtwenden einverstanden sei. Die PSOE-Unterstützer wünschten sich vielmehr eine starke Partei, damit diese unabhängig von den Forderungen der Regionalparteien agieren kann.

PP-Chef Feijóo versucht derweil aus Sánchez Volten Kapital zu schlagen. Am Sonntag, zwei Tage vor der Parlamentsdebatte, rief seine Partei zu einer Großkundgebung in Madrid auf. Es kamen Zehntausende Menschen in die Hauptstadt, weit mehr als erwartet. "Keine Amnestie! Sánchez raus!", skandierten die Teilnehmer noch vor Beginn der Reden.

Flankiert von der Führungsriege des Partido Popular sowie den beiden Ex-Präsidenten José María Aznar und Mariano Rajoy, warb PP-Chef Feijóo für die Einheit Spaniens, wetterte gegen Sánchez und gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens. Unter einem Meer aus rot-gelben Flaggen Spaniens riefen die Teilnehmer "Presidente! Presidente!".

Es wirkte wie Wahlkampf. Doch zur Wahl steht Feijóo in dieser Woche nur den 350 Abgeordneten des Kongresses. So gesehen wirkte der sonntägliche Akt außerparlamentarischer Opposition, kurz vor der Entscheidung im Parlament, nicht wie eine Geste der Siegesgewissheit.

Für Sánchez war die Einführung der Sprachenvielfalt im Kongress indes nicht nur ein Zugeständnis, sondern auch ein Lackmus-Test: 180 Abgeordnete stimmten dafür, eine absolute Mehrheit. Sollte Sánchez ähnlich viele Stimmen für sich als Regierungschef einwerben können, wäre das, obgleich knapp, für eine weitere Amtsperiode genug. Andernfalls kommt es Mitte Januar zu Neuwahlen.

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