Spanien:Der ganz normale Ausnahmezustand

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Bisher fehlt es an klaren Indizien für die Korruptionsvorwürfe gegen Begoña Gómez, die Frau des spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez. (Foto: Emilio Morenatti/DPA)

Nach fünftägiger Bedenkzeit verkündet Spaniens Ministerpräsident, nun doch im Amt bleiben zu wollen. Die aufgeheizte politische Stimmung im Land aber dürfte anhalten.

Von Patrick Illinger und Benedikt Peters, Madrid/München

Nach wenigen Sätzen der Einleitung sagte Pedro Sánchez am Montagmorgen jene drei Worte, die nicht wenige Menschen in Spanien überrascht haben dürften: "He decidido seguir." So formulierte es Spaniens Ministerpräsident um kurz nach elf Uhr morgens mit ernster Miene in die Kameras auf der Treppe vor seinem prächtigen Amtssitz Moncloa - übersetzt: "Ich habe entschieden, weiterzumachen."

Der Sozialist Sánchez bleibt nun also doch Regierungschef, und er beendet damit einen fünftägigen Ausnahmezustand, an den sich das Land noch einige Zeit zurückerinnern dürfte. Am vergangenen Mittwochabend hatte er in einem Brief an die Bevölkerung wissen lassen, dass er seinen Rücktritt erwäge: "Ich muss anhalten und nachdenken." Rechte und Ultrarechte versuchten, die Politik des Landes in einen "Sumpf" zu verwandeln, hatte Sánchez kritisiert; "mich drängt die Frage, ob es das wert ist".

Der Ehefrau des Ministerpräsidenten wird Korruption vorgeworfen

Anlass für den ungewöhnlich persönlichen Brief, den der Ministerpräsident über die Internetplattform X verbreitet hatte, war eine Anzeige gegen seine Ehefrau Begoña Gómez; ihr wird Korruption vorgeworfen. Manche Beobachter in Spanien halten solche Vorwürfe per se für stichhaltig, was auch damit zu tun haben dürfte, dass das Land einen großen Erfahrungsschatz an politischen Skandalen vorweisen kann. Andere halten sie für einen billigen, gehaltlosen Angriff gegen den Ministerpräsidenten.

Sánchez regiert das Land seit 2018, er hat Erfahrung mit dem rauen politischen Klima, in dem die Parteien öffentlich aufeinander losgehen. Auch deshalb hatte sein Schritt vom vergangenen Mittwoch viele überrascht, auch seinen engsten Beraterkreis.

Der Ministerpräsident hatte alle öffentlichen Termine abgesagt und angekündigt, sich am folgenden Montag zu seiner Zukunft zu äußern. Nicht einmal Parteifreunde und Koalitionspartner hätten in dieser Zeit Zugang zu ihm gehabt, berichteten spanische Medien; ausgenommen davon sei lediglich sein Kabinettschef Oscar López gewesen, mit dem Sánchez unaufschiebbare Angelegenheiten geregelt habe. Ansonsten sei er allein mit seiner Familie gewesen und habe gelegentlich Sport getrieben.

Der Chef der konservativen Partido Popular spricht von einem "Theater"

Manche deuten den fünftägigen Stillstand als taktisches Manöver; von einem "Theater" sprach der Chef der konservativen spanischen Volkspartei Partido Popular, Alberto Núñez Feijóo. Sánchez habe dem Land großen Schaden zugefügt, er müsse nun Platz machen für Neuwahlen. Andere sind überzeugt, dass die Anwürfe gegen seine Frau den Ministerpräsidenten tatsächlich tief getroffen haben.

Bisher fehlen klare Indizien für ein mögliches Fehlverhalten von Sánchez Ehefrau Begoña Gómez. Die schiere Zahl der teils spekulativen Andeutungen der Fehler von Gómez und ihrer Beratungsgesellschaft lässt eher am Gewicht der Anzeige gegen sie zweifeln. So wird Begoña Gómez und ihrer Firma vorgehalten, für Beratungsleistungen ein Jahreshonorar von 40 000 Euro von der Globalia-Gruppe bekommen zu haben, zu der die Fluggesellschaft Air Europa gehört. Und zwar, während die Regierung unter Führung ihres Mannes die Airline mit mehr als 600 Millionen Euro vor der Corona-Pleite rettete.

Übergangen wird dabei, dass der Globalia-Vertrag bereits im Januar 2020 geschlossen wurde, als die Corona-Pandemie noch kaum eine Rolle spielte und Subventionen für die Privatwirtschaft kein Teil der politischen Agenda waren. Zudem räumte die Lobbygruppe "Manos Limpias" ein, ihre Anzeige basiere auf Medienberichten, die möglicherweise auch falsch sein könnten.

Sánchez forderte eine Änderung der politischen Kultur des Landes

Mit seiner Erklärung nach der fünftägigen Bedenkzeit versucht der angeschlagene Ministerpräsident nun, wieder in die Offensive zu kommen. Am Wochenende hatten mehr als 10 000 Menschen in der Nähe des Hauptquartiers der sozialistischen Partei PSOE in der Madrider Calle de Ferraz für den Verbleib des Ministerpräsidenten demonstriert. "Quédate!", "Bleib!", hatte die Menge skandiert, außerdem "no pasarán", "sie werden nicht durchkommen", was im Bürgerkrieg der Kampfruf gegen Francos Faschisten war.

Zeitgleich tagte im Inneren der PSOE-Zentrale der Parteirat der Sozialisten; die Führungsspitze hatte sich dort vehement für Sánchez ausgesprochen. "Begoña, Genossin, wir stehen zu dir", so hatte es etwa Finanzministerin María Jesús Montero formuliert. Monteros Unterstützung für den Regierungschef war von großer Symbolkraft, denn sie wäre die natürliche Nachfolgerin gewesen, wenn Sánchez tatsächlich zurückgetreten wäre. Die Demonstranten in der Calle Ferraz, die die Rede per Livestream verfolgten, hatten Montero frenetisch beklatscht.

Die Demonstrationen für seinen Verbleib hätten ihn bei seiner Entscheidung beeinflusst, sagte Sánchez in seiner Erklärung am Montagmorgen. Er forderte, die politische Kultur des Landes müsse sich fundamental ändern. Die "gesellschaftliche Mehrheit" müsse nun aufstehen für den Anstand und das Gemeinwohl. Man habe zu lang dabei zugesehen, wie extreme Kräfte das politische Leben vergiftet hätten; ihre Methoden seien noch "vor wenigen Jahren unvorstellbar" gewesen.

Ob Sánchez mit seiner Rede eine Mehrheit der Spanier überzeugen kann, wird sich noch zeigen. Eine schnelle Abwahl muss der Ministerpräsident zumindest nicht fürchten, die nächsten Parlamentswahlen finden regulär erst in drei Jahren statt. Entscheidender dürfte sein, wie es nach der Anzeige mit den Vorwürfen gegen seine Ehefrau weitergeht, dies ist bislang noch unklar.

Von höchster Bedeutung ist außerdem die Frage, ob seine Koalition aus sieben Parteien weiterhin hält, sie ist teuer erkauft und fragil. Manche Gegenleistungen an die vielen Koalitionspartner seines "progressiven Bündnisses" sind noch nicht erbracht - allem voran das Amnestiegesetz für den katalanischen Separatisten Carles Puigdemont und dessen Mitstreiter. Klar scheint nur eines: Ruhe dürfte in der spanischen Politik so bald nicht einkehren.

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