Sexueller Missbrauch:Sprechen hilft. Aber es reicht nicht

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"Ich war erschüttert von den Lebensgeschichten": Christine Bergmann (links) in Berlin 2019. (Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Vor zehn Jahren rief die erste Beauftragte der Bundesregierung gegen Kindesmissbrauch Opfer auf, sich zu melden. Ein Forschungsprojekt belegt den Erfolg der Kampagne - aber auch die Enttäuschung mancher Betroffener.

Der unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, fordert die Politik auf, sich "noch viel konsequenter dem Kampf gegen sexuellen Missbrauch und seine Folgen" zu stellen. Er reagierte damit auf die Ergebnisse eines Forschungsprojektes, das auf die Arbeit seiner Vorgängerin Christine Bergmann (SPD) zurückgeht. Die ehemalige Familienministerin hatte vor zehn Jahren als Erste das Amt angetreten. Zuvor waren zahlreiche Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch bekannt geworden - etwa am Canisius-Kolleg der Jesuiten in Berlin, dann in mehreren deutschen Bistümern.

Tausende Briefe, Mails und Anrufe gingen bei der neuen Anlaufstelle ein. Im September 2010 startete Bergmann eine Kampagne mit Kino- und TV-Spots, Flyern und Postern - gestaltet von Regisseur Wim Wenders und dessen Frau Donata. "Sprechen hilft!", versprach der Claim der Kampagne. Für das Forschungsprojekt "Briefe" wurden in Zusammenarbeit mit Betroffenen innerhalb der vergangenen Jahre 229 Dokumente genau ausgewertet. Das Ergebnis konnte Bergmann nun präsentieren.

Ihr zufolge war ein Erfolg der Kampagne, dass viele Menschen - überwiegend Frauen - tatsächlich erstmals im Leben jemandem anvertraut hätten, was ihnen meist Jahrzehnte zuvor und in den meisten Fällen in der eigenen Familie angetan worden war. Doch wer Unterstützung, Anerkennung oder eine angemessene Therapie gesucht hatte, war zumeist enttäuscht worden.

"Ich war erschüttert von den Lebensgeschichten, aber auch beeindruckt von dem Mut und auch der Kraft, mit der viele Betroffene konkrete Anliegen vorbrachten, um mit ihrer Geschichte Politik und Gesellschaft zu bewegen, Kinder künftig besser zu schützen", sagte Bergmann. Aber: "Viele Betroffene hatten in die Kampagne 'Sprechen hilft!' Hoffnung vor allem in Bezug auf schnelle Hilfe und rechtliche Veränderungen gesetzt", sagte Projektleiter Jörg M. Fegert vom Uni-Klinikum Ulm. Hoffnungen, "die so nicht zu erfüllen waren".

Der Claim der Kampagne müsse deshalb aus heutiger Sicht auch kritisch betrachtet werden. Das Briefe-Projekt zeige, "wie enttäuschend und zermürbend es ist, wenn Erwartungen geschürt und dann enttäuscht werden", ergänzte Johannes-Wilhelm Rörig.

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