Horst Seehofer war ziemlich geladen: "Die stellen sich gegen diesen Staat. Da können sie tausendmal sagen, sie sind Demokraten." Der Bundesinnenminister sprach gar von einem "Frontalangriff" der AfD, aber vielleicht war es auch der CSU-Politiker, der sich da äußerte - so genau war das nicht zu unterscheiden. Jedenfalls stieß Seehofer eine Warnung aus: "Das ist für unseren Staat hochgefährlich. Das muss man scharf verurteilen."
Nein, in dem dpa-Interview ging es nicht um Thüringen und nicht um Höcke. Es ging um den Versuch der AfD-Fraktion im Bundestag, den Haushalt des Bundespräsidenten zum Debattenthema zu machen, weil Frank-Walter Steinmeier zur Unterstützung eines Chemnitzer Open-Air-Konzerts gegen Fremdenhass aufgerufen hatte. Das war im September 2018. Aber vielleicht könnte man Seehofers damalige Invektive gegen die AfD heute wiederverwenden: "Das ist staatszersetzend."
An diesem Dienstag ist das Interview Gegenstand einer Anhörung im Bundesverfassungsgericht. Der Zweite Senat verhandelt über eine Organklage der AfD gegen Seehofer. Der Vorwurf: Weil das Interview auf der Internetseite seines Ministeriums veröffentlicht worden sei, habe der Minister seine Pflicht zur Neutralität im politischen Meinungskampf verletzt.
Neutralität? Wer die Nachrichten der vergangenen Tage verfolgt hat, wird hier ins Grübeln geraten. Höcke sei ein Nazi, so wird NRW-Ministerpräsident Armin Laschet zitiert. "Die AfD ist in höchstem Maße reaktionär und spalterisch", erklärte sein sächsischer Amtskollege Michael Kretschmer. Beides hohe Amtsträger, und nichts in ihren Worten klang neutral. Aber hier sprachen eben nicht nur zwei Landeschefs, sondern vor allem ein Bundesvize der CDU und ein sächsischer CDU-Landesvorsitzender. Zwei Parteipolitiker also.
Seehofer verbreitete seine Aussage nicht per Pressemitteilung, aber auf der Website des Ministeriums
Tatsächlich entscheidet sich bei Politikern die Reichweite ihres Rechts zur freien Rede entlang dieser feinen Linie zwischen Regierungsamt und Parteipolitik. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gilt: Wer den Ministerhut aufhat, muss sich vornehm zurückhalten, weil er seine Hoheitsgewalt und seine Amtsautorität nicht als Waffe gegen die politische Konkurrenz einsetzen darf. Wer dagegen den Parteihut aufhat, darf auf die Pauke hauen.
Vor zwei Jahren beanstandete das Gericht eine vergleichsweise harmlose Äußerung der damaligen Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU), die eine "rote Karte" für die AfD gefordert hatte. "Björn Höcke und andere Sprecher der Partei leisten der Radikalisierung in der Gesellschaft Vorschub. Rechtsextreme, die offen Volksverhetzung betreiben wie der Pegida-Chef Bachmann, erhalten damit unerträgliche Unterstützung." Weil sie dies per offizieller Pressemitteilung tat, verletzte sie das Neutralitätsgebot - die AfD bekam recht. Manuela Schwesig (SPD) hingegen, die - damals ebenfalls Ministerin - einst das Ziel ausgegeben hatte, "dass die NPD nicht in den Landtag kommt", wurde in Karlsruhe 2014 sozusagen freigesprochen. Sie hatte sich in einem Zeitungsinterview geäußert, halb als Ministerin, halb als SPD-Vize. Das genügte dem Gericht.
Der Fall zeigt, wie schwer die Partei- von der Regierungspolitikerin zu unterscheiden ist. Das Gericht hat sich 2014 zwar an einer Abgrenzung versucht. Aber vermutlich hat genau dies die neuerliche AfD-Klage provoziert. Amtsautorität werde beispielsweise in Anspruch genommen, "wenn der Amtsinhaber sich durch amtliche Verlautbarungen etwa in Form offizieller Publikationen, Pressemitteilungen oder auf den Internetseiten seines Geschäftsbereichs erklärt".
Gleiches gelte für den "äußerungsbezogenen Einsatz sonstiger Sach- oder Finanzmittel, die einem Regierungsmitglied aufgrund seines Amtes zur Verfügung stehen". Seehofer hat zwar nicht per Pressemitteilung gegen die AfD gewettert, aber das Interview - wie vielfach üblich - mit Quellenangabe auf die Internetseite des Ministeriums gestellt. Sollte Karlsruhe hier pingelig sein, stünde diese verbreitete Praxis infrage.
In der Verhandlung dürfte zudem Seehofers Wortwahl eine Rolle spielen. Die AfD als "staatszersetzend" zu bezeichnen, ist ein ganz anderes Kaliber als seinerzeit Wankas "rote Karte". Zuspitzungen gehören freilich zum politischen Schlagabtausch, schon gar in Bezug auf eine Partei, bei der rhetorische Grenzüberschreitungen zum Markenkern gehören. Zudem wollte der Minister nicht etwa ein Pauschalurteil über die AfD abgeben, sondern reagierte auf einen - wie er es sah - Angriff der AfD-Fraktion auf den Bundespräsidenten. Er warf sich für das oberste Staatsorgan in die Bresche. Ob er das durfte, ist nach den strengen Grundsätzen des Wanka-Urteils fraglich; es gebe kein "Recht zum Gegenschlag", befand das Gericht.
Das Gericht wird prüfen müssen, ob eine partielle Knebelung in einer zunehmend polarisierten politischen Situation noch (oder womöglich erst recht) zeitgemäß ist. Federführend zuständig ist Peter Müller, der als ehemaliger Ministerpräsident des Saarlands das politische Geschäft kennt. Die AfD dürfte derweil Material für weitere Organklagen sammeln; Karlsruher Verhandlungen bieten eine prominente Bühne. Und markige Äußerungen gab es in jüngster Zeit ja genug.