Prozess in Tschetschenien:Menschenrechtler - zum Aufgeben gezwungen

Ojub Titijew, Memorial, Tschetschenien

Hinter Gittern im Gerichtssaal: Ojub Titijew, Leiter der tschetschenischen Niederlassung der Menschenrechtsorganisation Memorial.

(Foto: Musa Sadulayev/AP)
  • Ohne internationale Aufmerksamkeit wäre es wohl ein kurzer Prozess geworden: In Tschetschenien steht der Leiter der Menschenrechtsorganisation Memorial vor Gericht.
  • Ojub Titijew muss sich wegen Drogenbesitzes verantworten.
  • Inszenierte Drogenfunde sind zu einem beliebten Mittel des Kadyrow-Regimes geworden, um unbequeme Bürger aus dem Weg zu räumen.

Von Julian Hans, Grosny

Es ist eine ungewöhnliche Versammlung, die sich an diesem nasskalten Novembertag vor dem Bezirksgericht in Schali zusammengefunden hat, eine halbe Stunde Autofahrt von der tschetschenischen Hauptstadt Grosny entfernt. An der Fassade des Gerichtsgebäudes hängt ein großes Plakat, auf dem sich der russische Präsident Wladimir Putin und Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow strahlend die Hände reichen. Darunter begrüßen sich Diplomaten und Menschenrechtsaktivisten; die Botschaften Deutschlands und Frankreichs haben Vertreter geschickt, aus Berlin ist Nils Schmid angereist, der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.

Westliche Diplomaten kommen selten in die russische Teilrepublik; seit dem Ende des Krieges vor bald zehn Jahren hat das Auswärtige Amt seine Reisewarnung für die Region nie aufgehoben. Am Sonntag gab es zum ersten Mal nach langer Ruhe wieder einen Anschlag in Tschetschenien. Eine Selbstmordattentäterin zündete an einem Kontrollpunkt eine Bombe, außer ihr wurde niemand verletzt.

Aber seit in Schali der Prozess gegen Ojub Titijew läuft, kommen die Diplomaten regelmäßig. Der Leiter der Menschenrechtsorganisation Memorial in Tschetschenien wurde im Januar festgenommen. Polizisten behaupten, sie hätten bei einer Straßenkontrolle ein Päckchen Marihuana in Titijews Wagen gefunden.

Inszenierte Drogenfunde sind zu einem beliebten Mittel des Kadyrow-Regimes geworden, um unbequeme Bürger für eine Weile aus dem Weg zu räumen. So erging es Ruslan Kutajew, dem Vorsitzenden der Vereinigung der Völker des Kaukasus, der 2014 gegen den Willen Kadyrows eine Konferenz zum Jahrestag der Deportation der Tschetschenen und Inguschen durch Stalin organisiert hatte. Vier Jahre verbrachte er im Lager.

So ging es Schalaudi Gerijew , dem Reporter des kritischen Internetportals Kaukasischer Knoten, der im September 2016 wegen Drogenbesitzes zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, nachdem ihn Unbekannte zuvor entführt, geschlagen und bedroht hatten. Er arbeite gegen Kadyrow, hatten sie ihm vorgeworfen.

Titijews Vorgängerin wurde verschleppt und ermordet

Ojub Titijew ist 61 Jahre alt, ein bescheiden wirkender Mann mit dicken Brillengläsern und einer Gebetsmütze auf dem Kopf. Durch die Gitterstäbe im Gerichtssaal reicht er seinem Bruder die Hand. Seit 2010 leitet Titijew die regionale Organisation von Memorial. Er übernahm die Aufgabe von Natalja Estemirowa, die ein Jahr zuvor verschleppt und ermordet wurde. Seitdem musste eine Menschenrechtsorganisation nach der anderen ihre Vertretungen in Tschetschenien schließen. Manche behalfen sich damit, dass sie ihre Anwälte wochenweise in mobilen Gruppen in die Region schickten.

Ramsan Kadyrow hat Menschenrechtsorganisationen immer wieder vorgeworfen, sie machten gemeinsame Sache mit Terroristen. Oder sie würden vom Ausland bezahlt, damit sie Tschetschenien schlechtmachten. 2014 warfen Unbekannte Brandsätze in das Büro der Komitees gegen Folter, ein halbes Jahr später wurden die Räume erneut überfallen und verwüstet. Im Frühjahr 2016 überfielen maskierte Männer einen Bus mit Journalisten, die auf Einladung des Komitees gegen Folter in die Region gereist waren. Die Angreifer bedrohten die Insassen und fackelten den Bus ab.

Seitdem war Memorial die letzte Organisation in Tschetschenien, an die sich Menschen wenden konnten, wenn ihre Rechte verletzt wurden oder ihre Angehörigen verschwanden. In den Wochen vor seiner Festnahme hatte Ojub Titijew den Fall von 27 Häftlingen dokumentiert, die ohne jedes Verfahren hingerichtet wurden.

"Wenn Moskau eingreift, gibt es zumindest ein wenig Hoffnung"

Im Oktober wurde Titijew vom Europarat mit dem Václav-Havel-Preis für Menschenrechte ausgezeichnet. Sein Anwalt hat ihm die Medaille im Gerichtssaal übergeben. In dieser Woche bekommt Titijew auch den Deutsch-Französischen Preis für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, mit dem Berlin und Paris ihr gemeinsames Eintreten für Menschenrechte demonstrieren wollen.

Es ist der 14. Verhandlungstag, auf Antrag der Verteidigung werden Entlastungszeugen gehört. Vertreter anderer Menschenrechtsorganisationen berichten, wie Drohungen und Überfälle sie zur Aufgabe zwangen. Am eindrucksvollsten aber sind die Dorfältesten aus Titijews Heimatort, würdevolle Männer, die ihre silbergrauen Lammfellmützen wie Kronen tragen und sie auch im Zeugenstand nicht absetzen.

Die Dorfältesten beschreiben den Angeklagten als guten Muslim

Ethnologen könnten in diesem Gerichtssaal studieren, wie sich unterschiedliche Rechtssysteme im Kaukasus überlagern. Da ist einmal das Gesetz der Russischen Föderation, nach dem das Verfahren formal abläuft; die Richterrobe, die Uniform der Staatsanwälte, die Rituale der Strafprozessordnung.

Dann gibt es das Recht des Stärkeren, die Willkürherrschaft Kadyrows, der sich über das geschriebene Gesetz hinwegsetzt, nicht nur, indem er Vielehen und Hochzeiten mit Minderjährigen erlaubt. Und dann gibt es noch das Adat, das ungeschriebene Gesetz der kaukasischen Tradition aus vorislamischer Zeit.

Bei einem Verfahren in Moskau stehen die Beteiligten auf, wenn der Richter den Raum betritt. Hier in Schali stehen alle auf, wenn die Dorfältesten in den Zeugenstand treten. Selbst die Gerichtsdiener und die Polizisten mit ihren Maschinenpistolen erheben sich.

Alle Zeugen beschreiben Titijew als guten Muslim, der sich an die Gebetszeiten hielt, weder trank noch rauchte, den Ramadan einhielt und regelmäßig im Boxring trainierte. Der Islam, das Alter und der Sport, das sind die Dinge, die im Kaukasus über alle Lager hinweg Achtung genießen. "Ich habe selbst in meiner Jugend gekifft, ich weiß, wie das riecht", sagt ein schwerhöriger 78-Jähriger. "Aber Ojub - niemals!" Selbst die Richterin muss kichern.

Der Prozesstag sei formal korrekt abgelaufen, sagt Nils Schmid am Abend. "Aber das gesamte Verfahren hinterlässt den Eindruck, dass das Urteil schon feststeht und dass es vor allem darum geht, einen unliebsamen Vorkämpfer für Menschenrechte zu schwächen." Mit seinem Besuch in Tschetschenien wolle er "die deutliche Erwartung ausdrücken, dass Ojub Titijew ein faires Verfahren bekommt".

Titijew sei eine wichtige Anlaufstelle für Menschen in Tschetschenien gewesen, die Kadyrows Behörden nicht trauten, sagt einer der anwesenden Diplomaten: "Wenn er verurteilt wird, heißt das, dass Memorial nicht einmal eigene Mitarbeiter schützen kann. Wer wird sich dann noch an sie wenden?"

Ohne internationale Aufmerksamkeit wäre es wohl ein kurzer Prozess geworden, meint Pjotr Saikin, Titijews Anwalt. Mit einem Freispruch rechnet er deshalb nicht. Das günstigste Szenario wäre, wenn die Richterin den Fall an das Föderale Ermittlungskomitee überweisen würde. Damit wäre es den Polizisten entzogen, die die Beweise gegen Titijew vermutlich auf Anweisung des tschetschenischen Machthabers gefälscht haben. "Wenn Moskau eingreift, gibt es zumindest ein wenig Hoffnung."

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