Demokratie:Was wirklich zählt

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Eine der größten Demonstrationen in diesem Jahr fand im August in Berlin unter dem Motto "Unteilbar" statt. (Foto: dpa)

Und wieder haben wir vor allem über Flüchtlinge und den Schutz der deutsch-österreichischen Grenze vor einigen Asylbewerbern debattiert. 2019 sollten wir uns mit wichtigeren Fragen auseinandersetzen.

Von Stefan Ulrich

Jeder kennt das aus seinem Leben: Eine besonders unangenehme Herausforderung steht an, Prüfung, Streitgespräch, Jobwechsel oder Fastenkur. Doch anstatt sich damit auseinanderzusetzen, weicht man auf andere Aufgaben aus. Kleiderschrank aufräumen, Auto putzen, Einkäufe. Die eigentliche Herausforderung wird dadurch nicht geringer, im Gegenteil. Doch sie ist fürs Erste verdrängt.

Nicht anders ergeht es ganzen Gesellschaften samt ihrer Politik und den Medien. Sie stürzen sich auf Themen und streiten sich über Fragen, die im Augenblick eher zweitrangig sind, weil die wirklichen Probleme zu komplex oder verstörend wirken, um sich ihnen zu stellen. So beschäftigte sich Deutschland in diesem Jahr wieder obsessiv mit der "Flüchtlingskrise", obwohl diese Krise seit ihrem Höhepunkt im Jahr 2015 erheblich entschärft wurde.

Die Zahlen der Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge gingen stark zurück. Abkommen mit Staaten wie der Türkei bringen Entlastung. Die Behörden sind besser auf Aufnahme und Integration eingestellt. Dennoch wäre Mitte des Jahres die Bundesregierung fast zerbrochen am Streit über die Flüchtlinge. Dabei ging es besonders um die Frage, ob Asylbewerber, die in einem anderen EU-Staat registriert wurden, an der Grenze zurückzuweisen sind. Erst als ein erheblicher Teil der politischen Energie wochenlang für diesen Konflikt aufgewendet wurde, kam es zum Kompromiss. Dessen Bilanz, Stand Mitte Dezember: eine zerrupfte Union, eine gestärkte AfD - sowie sieben Menschen, die an der deutsch-österreichischen Grenze zurückgewiesen wurden.

Kurz darauf drohte die Koalition an einem drittrangigen Problem zu zerplatzen: dem Umgang mit einem Verfassungsschutzpräsidenten, der aus der Rolle gefallen ist. Auch da ging es um die AfD, wie überhaupt alles, was sich mit dieser Partei verbinden ließ, immense Aufmerksamkeit genoss. Andere, wirklich vitale Fragen wurden nicht annähernd so leidenschaftlich diskutiert. Energie und Aufmerksamkeit sind endliche Ressourcen.

Zu kurz kamen 2018 lange soziale Themen und die Frage der Gerechtigkeit. Niedriglöhne, geringe Renten, Altenpflege, Mieten, Verteilung des Reichtums oder die immensen künftigen Belastungen für die junge Generation rückten erst richtig in den Vordergrund, nachdem CSU, CDU und SPD krachende Wahlniederlagen eingefahren hatten. Damit stand Deutschland keineswegs allein. Frankreich drohte ins Chaos zu gleiten, weil Präsident Emmanuel Macron die Unzufriedenheit vieler Menschen über echte oder vermeintliche Ungerechtigkeiten unterschätzt hatte. Und in Italien gelangten vor allem deshalb Nationalpopulisten an die Macht, weil sich viele Italiener ungerecht von der EU behandelt wähnten.

Die Europawahlen bieten die Gelegenheit, 2019 über wichtigere Themen zu streiten als im vergangenen Jahr

Zweifel an der sozialen Gerechtigkeit, ein Gefühl, vernachlässigt zu werden, und Argwohn, eine global agierende Elite verteile allen Reichtum unter sich, zersetzen das Modell der liberalen, westlichen Demokratie. Sie untergraben die Idee der Zusammenarbeit über Grenzen hinweg. Und sie stärken die Sehnsucht nach autoritären Führern und homogenen Volksgemeinschaften in säuberlich voneinander abgegrenzten Nationalstaaten.

Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit im globalen Kapitalismus verdient im kommenden Jahr höchste Aufmerksamkeit und passionierten Streit. Ähnliches gilt für den Umgang mit Techno-Riesen wie Amazon, Google und Facebook. Ihre fast globale Monopolstellung ist ein Desaster für jede Ordnungspolitik. Ihre Macht wird größer als die vieler Staaten, die Gefahr des Missbrauchs dieser Macht wächst bedrohlich. Darüber zu debattieren, ist wichtiger, als über den Schutz der deutsch-österreichischen Grenze vor einigen Asylbewerbern.

Oder China. Ein faszinierendes, dynamisches Land, das danach strebt, zur Weltmacht zu werden, wirtschaftlich, militärisch, geopolitisch. Was nicht so problematisch wäre, wenn sich dieses Land nicht gerade in eine totalitäre Diktatur zurückentwickeln würde. Eine Diktatur, die nicht davor zurückschreckt, die sich rasant entwickelnde künstliche Intelligenz zur totalen Überwachung und Manipulation der Bürger einzusetzen. Wie umgehen mit China? Wo Grenzen setzen? Und womit? Darüber zu diskutieren ist aller Mühen wert.

Schließlich Europa, das so sehr gebraucht würde in einer Zeit, in der die USA schlingern, autoritäre Herrscher auftrumpfen und die Menschheit dabei ist, ihren Planeten zu zerstören. Urwälder. Ozeane. Klima. Staaten und Bürgern der EU dürfte da eigentlich nichts wichtiger sein, als ihre Union zu stabilisieren und zu stärken. Doch derjenige, der das in jüngster Zeit am ehesten versuchte, der Franzose Macron, wurde alleingelassen.

Immerhin, im kommenden Frühjahr sind Europawahlen. Sie bieten die Gelegenheit, 2019 über wichtigere Themen zu streiten als im vergehenden Jahr.

© SZ vom 29.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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