Migration:Elf Tage, sechs Stunden

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Auf dem Ruderblatt eines Öltankers sind drei Männer von Nigeria nach Gran Canaria gelangt. Wie konnten sie diese Reise überstehen?

Von Paul Munzinger

Am Montagabend um 17.27 Uhr ging bei der Küstenwache in Las Palmas, der Hauptstadt der spanischen Insel Gran Canaria, ein Notruf ein. Orlando Ramos machte sich mit seinem Rettungsschiff Nunki sofort auf den Weg. Als er am Einsatzort ankam, zückte Ramos sein Handy, um ein Foto zu machen. Dass das Bild um die Welt gehen würde, scheint die Küstenwache geahnt zu haben: Es gibt sogar ein Foto, das Ramos beim Fotografieren zeigt.

Auf dem Foto, das er am Montagabend schoss, ist das breite Heck eines Öltankers zu sehen, oben schwarz, unten rot, die Farbe blättert ab. Darunter das spitz zulaufende Ruder, das um etwa einen Meter aus dem Wasser ragt. Auf dem Ruder sind drei Menschen zu erkennen. Ihre nackten Füße baumeln nur Zentimeter über dem Meeresspiegel, ihre Rücken sind gebeugt, weil zu wenig Platz ist, um aufrecht zu sitzen. Es sieht fast aus, als trügen sie das riesige Schiff auf ihren Schultern.

Vom Ruderblatt ins Rettungsboot

Die spanische Küstenwache hat Ramos' Foto am Montagabend auf Twitter veröffentlicht. Ein Rettungsboot, schrieb sie dazu, habe am Nachmittag drei blinde Passagiere im Hafen von Las Palmas gerettet. Sie hätten sich auf dem Ruderblatt eines Schiffes befunden, der Alithini II, die aus Nigeria gekommen war. Aus der Küstenstadt Lagos, um genau zu sein, das lässt sich auf Marine Traffic und anderen Tracking-Webseiten für den internationalen Schiffsverkehr herausfinden. In Lagos war die Alithini II, die unter maltesischer Flagge fährt und 183 Meter lang ist, am 17. November in See gestochen. Elf Tage und sechs Stunden später kam sie in Las Palmas an.

Orlando Ramos, Kapitän eines Rettungsschiffs der Küstenwache, schießt das Foto der drei Männer auf dem Ruderblatt. (Foto: Salvamento Maritimo)

Die Zahl der Menschen aus Afrika, die über die Kanarischen Inseln nach Europa zu gelangen versuchen, ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Die Kanaren gehören zu Spanien, liegen aber dicht vor der westafrikanischen Küste; Fuerteventura und Marokko trennen nur etwas mehr als 100 Kilometer. Andere Fluchtrouten, etwa durch Niger und Libyen Richtung Mittelmeer, wurden auch auf europäischen Druck hin versperrt. Doch die Westafrika-Atlantik-Route ist besonders gefährlich, die Todeszahlen dort sind laut Internationaler Organisation für Migration (IOM) zuletzt sprunghaft angestiegen: von 43 im Jahr 2018 auf mehr als 1100 im vergangenen Jahr. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Auf zwanzig Menschen, die die Kanaren erreichen, kommt einer, der ertrinkt, schätzt die IOM.

Die drei blinden Passagiere von Las Palmas haben ihre Reise überlebt. Wie ist das möglich - elf Tage und sechs Stunden lang, zusammengekauert auf einem Ruder, auf hoher See?

Die ungewöhnliche Reise war nur möglich, weil das Schiff nicht voll beladen war

Möglichst ist das zunächst einmal, weil das Schiff nicht voll beladen war, sagt Florian Sprenger, Professor für Schiffbau an der Universität Rostock. Nur deshalb liegt der obere Teil des Ruderblatts über Wasser, nur deshalb gibt es die kleine Plattform überhaupt, auf der die drei Männer die Reise verbrachten. Theoretisch, sagt Sprenger, hätte die Plattform aber auch auf der Reise im Wasser verschwinden können. Denn manchmal nehmen Schiffe unterwegs Ballastwasser auf, um mehr Tiefgang zu bekommen. Was dann aus den Männern geworden wäre, hätte die Welt wohl nie erfahren.

Dazu kam ein gewisses Wetterglück. Nur bei ruhiger See, schätzt Sprenger, könne man eine solche Reise überstehen. Die Gefahr, von einer Welle ins Wasser gespült zu werden, sei groß. Das Ruder bietet keine Möglichkeiten, sich festzuhalten, es sei schließlich "strömungsoptimiert gebaut". Nachts gibt es kein Licht. Und natürlich bewegt sich das Ruder. Um das Schiff auf Kurs zu halten, schwenkt es in der Regel um fünf bis zehn Grad in beide Richtungen aus, sagt Sprenger, maximal seien 35 Grad möglich.

Alles in allem, sagt Sprenger, eine "hochgefährliche" Reise. Doch die drei Männer, die laut spanischer Küstenwache aus Subsahara-Afrika stammen, sind nicht die ersten, die dieses Risiko für die vage Chance auf eine Zukunft in Europa auf sich genommen haben. Die Küstenwache listet auf Nachfrage fünf ähnliche Fälle seit 2018 auf, mal sind es vier Männer, mal sieben, mal nur einer. 2020 etwa war ein 14-Jähriger ebenfalls auf dem Ruder eines Schiffs auf die Kanarischen Inseln gelangt. Er habe sich nie vorgestellt, dass es so hart sein würde, sagte er später in einem Interview mit der spanischen Zeitung El Pai s. Wie viele Menschen die Reise auf dem Ruder wagen, aber nie ankommen, weiß niemand.

Unterkühlt, geschwächt und dehydriert

Die drei Männer, die am Montag im Hafen von Las Palmas angekommen waren, wurden nach ihrer Rettung ins Krankenhaus gebracht. Laut Küstenwache waren sie unterkühlt, geschwächt und dehydriert. Ob und wie sie sich auf dem Schiff mit Wasser und Nahrung versorgten, ist bislang unklar.

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Zwei von ihnen konnten das Krankenhaus inzwischen verlassen. Am Mittwoch war mancherorts zu lesen, dass sie zurück aufs Schiff gebracht worden seien, um umgehend nach Nigeria zurückgebracht zu werden. Doch diese Berichte haben sich offenbar nicht bestätigt. Die Nachrichtenagentur AP meldete am Nachmittag unter Berufung auf einen Regierungssprecher, die drei Männer könnten in Spanien Asyl beantragen.

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