Rezension des Buches "Die Kanzlerin und ihre Zeit":Die Puzzleteile der Stabilität

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Warten auf die nächste Krise: Angela Merkel beim G-20-Gipfel in Hamburg 2017. (Foto: Regina Schmeken)

Der Journalist Ralph Bollmann hat in seinem Buch als Erster die politische Persönlichkeit Angela Merkels im Ganzen zusammengesetzt. Er beschränkt sich bei der Betrachtung der 16 Jahre währenden Kanzlerschaft auf das akribische Nacherzählen - und überlässt Deutungen und Einordnungen anderen.

Von Stefan Kornelius

Trotz 16 Jahren Kanzlerschaft und 32 Jahren im öffentlichen Leben ist die Zahl der biografischen Werke über Angela Merkel bemerkenswert niedrig. Merkel selbst hat nur kontrolliert zu der Entdeckung ihrer Person beigetragen - in einem Gesprächsbuch und in einer fotografischen Langzeitstudie. Die übrigen Biografien oder Bücher mit relevanten biografischen Elementen lassen sich an einer Hand abzählen.

Nun kommt zum Ende ihrer Kanzlerschaft ein ganzer Schwung neuer Titel auf den Markt, wovon einer sofort hervorsticht: Der Journalist Ralph Bollmann, Wirtschaftsredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Korrespondent in Berlin, wagt sich als Erster an das Große und Ganze: an eine Gesamtschau des Lebens von Angela Merkel und an die akribische Aufarbeitung der Kanzlerschaft. "Angela Merkel - Die Kanzlerin und ihre Zeit" heißt der Wälzer wenig überraschend, und noch weniger überrascht der Umfang von knapp 800 Seiten. 67 Lebens- und 16 Regierungsjahre haben bei anderen Herrschern ganze Buchreihen beansprucht. Bollmann fasst sich beinahe kurz - und bleibt dennoch präzise.

Die Quellenlage ist dünn, das Timing dennoch gut

Eine Biografie zu diesem Zeitpunkt, direkt am Ende der Amtszeit birgt Risiken und Chancen. Der Vorteil liegt im Timing: Merkel genießt noch alle Aufmerksamkeit, sie führt die Sympathielisten an. Wann sonst will man nachlesen, was sie zur Kanzlerin werden ließ und wie sie das Amt ausgefüllt hat? Der Nachteil ist die Quellenlage. Dokumente und persönliche Nachbetrachtungen der Akteure, vielleicht sogar Memoiren der Protagonistin selbst - es gibt sie nicht. Die Archive sind noch eine Weile lang verschlossen. Merkel selbst spricht nicht. Ihre Kanzlerschaft muss sich erst noch setzen.

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Die Bundeskanzlerin hat zunächst US-Vizepräsidentin Kamala Harris getroffen. Und sie hat verraten, was sie nach dem Ende ihrer Amtszeit machen will. Der Besuch von Merkel in Bildern.

Bollmann verkehrt den Mangel in eine Stärke. Mit dem Gespür des Historikers und dem Hunger eines Journalisten fügt er akribisch die Puzzleteile aus dem Leben Merkels zusammen. Kein noch so kleines Fundstück aus der Flut der Tagesberichterstattung lässt er sich entgehen, verdichtet Anekdoten, verbürgte biografische Aussagen, Reden, Auftritte, Bilder und Zeitzeugentexte zu einer Gesamtschau, die den großen Anspruch einer frühen Biografie erfüllt. Bollmann hat keine der relevanten Episoden vergessen und die irrelevanten aussortiert - diese Feststellung ist angesichts des umfassenden Lebenswerks keine Lappalie. Dankenswerterweise fügt der Autor noch einen ansehnlichen Fußnotenapparat, ein Namensverzeichnis und vor allem eine Quellenübersicht hinzu.

Der Autor bietet eine präzise Nacherzählung

Anders als die vielen Deutungs- und Meinungsbücher zu Merkel bleibt der Autor dabei ruhig und sachlich bei seinem biografischen Objekt. Es ist geradezu auffällig, wie sehr sich Bollmann bei Wertung und Einordnung zurückhält. Das tut gut, denn die akribische Nacherzählung entwickelt ihre eigene Aussagekraft.

Natürlich ist es riskant, sich in wichtigen Details vor allem auf journalistische Quellen zu stützen, zumal wenn sie exklusiv geblieben sind. Der dramatische G-20-Gipfel 2011 in Cannes zum Höhepunkt der Euro-Krise mit einem vermeintlichen Tränenausbruch Merkels ließ sich so bisher nur bei einem (gleichwohl seriösen) Financial Times-Journalisten nachlesen. Dass die Nominierung von Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin durch den französischen Präsidenten Emmanuel Macron schon ein Jahr zuvor abgesprochen war - das gehört noch ins Reich der Spekulation.

In diesem Moment siegt der Journalist Bollmann über den Historiker Bollmann. Das muss man einem Biografen zu diesem Zeitpunkt aber erlauben, zumal wenn er offen mit dem Dilemma umgeht. Dafür bietet der Historiker Bollmann alle journalistische Erzählkunst auf, wenn er etwa Jugend und Studienzeit Merkels mit Zeitgeschichte und Lebensgefühl der späten DDR würzt, oder wenn er das politische Biotop der späten Bonner Jahre zwischen Kohl und Pizza-Connection perfekt nachzeichnet.

Beim Redenschreiben wägt sie jedes Wort

Wichtiges Quellenmaterial, und daran erinnert der Autor dankenswerterweise, sind Merkels Reden. Die Kanzlerin verwendet viel Aufwand für Konzeption und Inhalt gerade ihrer Regierungserklärungen. Merkel wägt jedes Wort, als spräche sie für den Nachlass. Und so dürfte es kaum verwundern, wenn die Historiker eines Tages vor allem Reden zitieren, zumal der Aktenumlauf in Zeiten der Textnachrichten-Kanzlerin auf ein notwendiges Minimum reduziert sein könnte.

Bollmann kommt also das Verdienst zu, als Erster das komplette Gerüst der politischen Persönlichkeit Merkels gebaut zu haben, akkurat, Jahr um Jahr, Ereignis um Ereignis. So verdichtet sich das Bild der Frauenministerin, der Klimapolitikerin, der Machtpolitikerin im Kampf um den CDU-Vorsitz. Koalitionen, Rivalen, Getreue - es entsteht das Porträt einer Politikerin, aber auch eben ihrer Zeit, wie es der Titel verspricht. Verhandlungen auf nationaler und internationaler Bühne, die großen Krisen um den Euro, die Ukraine, die Flüchtlinge, den Trumpismus. Dazwischen immer: Schröder und Westerwelle, Schulz und Seehofer, Merz und Schäuble - erst die komprimierte Fassung eines dichten Lebens macht deutlich, welch immenses Pensum diese Frau geleistet hat und was es braucht, um Kanzlerin über derart lange Zeit zu sein.

Bis heute begleitet Angela Merkel die Vermutung, dass es doch eine andere, unentdeckte Person in ihr geben müsse. Bemerkenswert an dieser nicht nachlassenden Suche nach dem Mysterium ist vor allem, wie sich Merkel die Aura der Geheimnisvollen bewahrt hat. Die Erklärung dafür ist freilich weniger konspirativ als vermutet: Merkel hat ein sehr eindrückliches Gespür für Nähe und Distanz, sie betreibt in Zeiten der Omnipräsenz ein perfektes Aufmerksamkeits-Management.

Aus der kann noch "etwas werden": Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag 1990 in Dresden. (Foto: Regina Schmeken/SZ Photo)

Bollmann teilt die Biografie in drei Phasen: Kindheit und Leben in der DDR; politischer Aufbruch nach der Wende bis in den Beginn der Kanzlerschaft hinein; die Jahre der Krisen und der Weltpolitikerin Merkel. Überhaupt die Krisendichte und die geradezu atemlose Abfolge von weltpolitischen Crash-Momenten: Bollmanns wohltuende Sachlichkeit hätte hier die eine oder andere zusätzliche Überhöhung verdient. Denn wenn sich diese Kanzlerschaft von ihren Vorgängerinnen unterscheidet, dann in der Bedeutung, die Deutschland in all den Krisen zugewachsen ist, und in der Bedrohung, der das bundesrepublikanische Demokratiemodell seit Jahren ausgesetzt ist.

Sie wuchs an den globalen Krisen

Am Ende ist Corona - und Corona ist ein noch nicht abgeschlossenes Kapitel, was man den 30 Buchseiten zu diesem Thema anmerkt. Sie sind zu nervös, zu konturenlos, zu frisch. Allerdings wird sichtbar, wie sehr sich Merkel aus der Enge der Innenpolitik und der Machtkämpfe in der CDU herausgearbeitet hat und wie ihre Persönlichkeit mit den globalen Krisen gewachsen ist. Diese Verlaufskurve hat Merkels Kanzlerschaft am Ende die historische Bedeutung gegeben.

Bollmann konstruiert einen dramaturgischen Abbruch, wenn er die Amtszeit wieder im kleinen Karo von Koalitionsverhandlungen und Nachfolge-Desaster enden lässt. Ja, das Ende der Macht hat sich lange abgezeichnet, und die Begleitumstände ließen die amtierende Koalition als letztes Aufgebot erscheinen. Aber Merkel hat es nicht zuletzt Trump, der Pandemie und den Großkrisen in Europa zu verdanken, dass sie von einer Mehrheit bis zuletzt als unverzichtbar angesehen wurde.

Aber das sind Gewichtungsfragen, und Bollmann verzichtet weitgehend auf ihre Beantwortung. Das ist eine kluge Entscheidung, denn der Deutungskampf um die Kanzlerschaft wird noch eine Weile andauern. Bollmanns zaghaftes Eingangsurteil - die Kanzlerschaft Merkels sei in ihrer Krisenhaftigkeit am ehesten mit der von Helmut Schmidt zu vergleichen -, erfährt im kurzen Bilanz-Kapitel ein kleines Upgrade: Kontinuität sei in unruhigen Zeiten ein Wert an sich. Es könnte also sein, "dass sich viele Menschen nach dieser Stabilität bald zurücksehnen werden".

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