Das Politische Buch:Schatten über Stammheim

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Ein Dokumentenband gewährt tiefe und erschütternde Einblicke in den großen RAF-Prozess 1975/77 in Stuttgart - zwischen Paragrafenreiterei, ideologischem Geschwätz und Gebrüll.

Von Robert Probst

Wenn sich ein Zeuge auf einen Vorsitzenden Richter stürzt ("beide fallen hinter dem Richtertisch zu Boden"), wenn Angeklagte unflätige Schimpfworte und Beleidigungen brüllen, wenn ein beisitzender Richter mit der Faust auf den Tisch haut, wenn Anwälte ständig dazwischenrufen, wenn Angeklagte kommen und gehen, wann sie wollen, oder auch mal mit Gewalt aus dem Saal geschafft werden müssen - dann handelt es sich eher nicht um eine Nachmittagsgerichtsshow oder eine Netflix-Serie mit grimmigen Bösewichtern, sondern schlicht um die bundesdeutsche Vergangenheit. Willkommen also in Stuttgart-Stammheim beim RAF-Prozess.

Ganz sicher hatte der Prozess gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Ulrike Meinhof in den Jahren 1975 bis 1977 auch eine große Portion Theatralik und sogar einen gewissen Unterhaltungswert, doch verhandelt wurden damals vor allem die ganz großen Fragen der Gegenwart. Ein vorzüglich edierter Band macht nun erstmals ausgewählte Passagen aus dem Wortprotokoll der Hauptverhandlung zugänglich - und führt die Leser mitten hinein in die bleierne Zeit der BRD und zur Gretchenfrage: Wurde hier der erste politische Prozess seit 1945 geführt, mit dem Ziel, an den RAF-Terroristen mithilfe von "Isolationsfolter" und dreckigen Tricks in Bonn ein Exempel zu statuieren, oder ging es hier um einen "ganz normalen Straffall", bei dem über sechs Sprengstoffanschläge mit vier Toten, mehrere Raub- und Diebstahlsdelikte im Jahr 1972 verhandelt wurde?

Ein "ganz normaler Straffall" oder doch mehr?

Die Frage wird in der knappen Einleitung und im Fazit der beiden Herausgeber nicht beantwortet - Florian Jeßberger und Inga Schuchmann, die seit fünf Jahren an diesem juristischen Dokumentationsprojekt arbeiten, beschränken sich auf eine kluge Auswahl von Szenen und einen gewaltigen Anmerkungsapparat, der auch für Laien die Feinheiten der damaligen Strafprozessordnung aufschlüsselt. Leider sehr knapp geraten ist die historische Einbettung des Prozesses in die dramatische Zeit und hochaufgeregte öffentliche Debatte, die ja kurz nach dem Urteil im "Deutschen Herbst" gipfelte. Hier ist es hilfreich, immer wieder mal einen der Sachbuchklassiker oder Ulf G. Stubergers "Die Tage von Stammheim. Als Augenzeuge beim RAF-Prozess" zurate zu ziehen.

Anders als in deutschen Gerichtssälen üblich, hatte sich das Oberlandesgericht Stuttgart entschieden, die Hauptverhandlung auf Tonband aufzunehmen und diese Mitschnitte dann zu verschriftlichen. Entstanden ist auf diese Weise ein einzigartiges Dokument - die Edition ermöglicht es dem Leser, das Personal und die aufgeladene Atmosphäre beinahe hautnah zu erleben: Da ist der überforderte Vorsitzende Richter Theodor Prinzing, der sich an seinen Paragrafen festzuhalten und Monat für Monat die Angeklagten mit Wortentzug zu disziplinieren versucht; da sind die Angeklagten, die als "Guerilla" ihre Taten für nicht justiziabel halten und mit allen Mitteln die Verhandlung sabotieren (Baader: "Ich werde stören, solange ich hier drin bin"); da sind manche Verteidiger, die ein Widerstandsrecht des Einzelnen gegen das Vorgehen der USA in Vietnam konstruieren wollen, um die Anschläge gegen US-Einrichtungen in Deutschland zu rechtfertigen, und sonst vieles tun, um den Prozess zu verzögern; da sind andere Anwälte, die eigentlich eher wenig tun (und sogar einschlafen); und es geht um Anwälte, die wegen zu großer Nähe zu den Angeklagten vom Prozess ausgeschlossen worden waren oder bereits die Seiten ganz gewechselt hatten.

Auch von außen gab es Eingriffe - vor allem aus Bonn

Brigitte Mohnhaupt formuliert es als Zeugin so: "Das Verhältnis zwischen uns, dem Gericht, der Justiz, der Bundesanwaltschaft ist der genaue Begriff: Krieg." Auf der anderen Seite erstaunt die Eiseskälte, mit der Prinzing nach dem Suizid von Ulrike Meinhof in ihrer Zelle die Vertagung der Verhandlung verweigert.

Ein weiterer Akteur - der hier nur am Rande vorkommt - war noch die Bundesregierung, die einige Gesetze eigens für das Verfahren schuf und sich auch sonst immer wieder ungut einmischte. Im Frühjahr 1977 fiel ein besonders dunkler Schatten durch die Abhöraffäre auf den Prozess, nachdem bekannt geworden war, dass in Stammheim Angeklagte und Anwälte heimlich abgehört worden waren. Rechtsanwalt Otto Schily hatte also nicht ganz unrecht, als er sagte: "Was hier im Prozess geschieht, das wird in Bonn entschieden." In der polemischen Zuspitzung freilich trug auch dieser Satz nicht zur Beruhigung der Gemüter bei.

Der Band erklärt nicht die RAF und auch nichts für richtig oder falsch. Die ausgewählten Passagen zeigen "nur" schlaglichtartig, wie es in einem der wichtigsten Terrorprozesse einst zuging: schrill, schäbig, kräftezehrend und, ja, auch erschütternd.

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