Ostern:Das Meer verschlingt Tausende Menschen - weil niemand hilft

Flüchtlingsboot im Mittelmeer

Keine Rettung, keine Auferstehung, kein Ostern: Europa hört die Hilferufe der Flüchtlinge nicht mehr.

(Foto: dpa)

Was die Geschichte von Jona und dem Walfisch mit uns und mit den sterbenden Menschen im Mittelmeer zu tun hat.

Kolumne von Heribert Prantl

Das Tier, das man mit Ostern verbindet, ist der Hase; Hase und Nest kommen aber in der Bibel gar nicht vor. Dort gibt es ein anderes Ostertier: Es ist der Fisch, ein großer, gewaltiger Fisch, ein Seeungeheuer, das Martin Luther einen Wal genannt hat. Seitdem kennt man diese Geschichte als die von Jona und dem Wal. Der Prophet Jona also wurde von einem Wal verschlungen; und er überlebt in dessen Eingeweiden, bis ihn der Wal nach drei Tagen wieder am Strand ausspeit; so liest man es im Alten Testament.

Es ist eine Lehrerzählung mit mythologischen Bildern, eine sagenhafte Geschichte über Verderben, Untergang und Rettung in aussichtsloser Lage. Die drei Tage des Jona im Bauch des Fisches deuteten die Christen als "Zeichen des Jona", als Sinnbild für die Auferstehung Jesu von den Toten am dritten Tag, an Ostern. Die Zahl Drei ist hier keine kalendarische Angabe, sie ist eine theologische Ansage: Die Überwindung des Todes geht durch die vernichtende Hoffnungslosigkeit hindurch. Der erste Tag, der Karfreitag, ist das "Gekreuzigt, gestorben und begraben". Der zweite Tag ist der Karsamstag, an dem es noch tiefer hinabgeht, in den Abgrund der Verzweiflung: "Hinabgestiegen in das Reich des Todes". Erst am dritten Tag heißt es "auferstanden von den Toten". Das ist der Ostersonntag.

Die alttestamentliche Lesung für den Karsamstag nimmt die Gläubigen mit in die Unterwelt. Gelesen wird die Klage des Jona im Bauch des Fisches; sie gehört zu den eindringlichsten Gebeten, die es gibt: "Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer. Ich sank hinunter zu der Berge Gründen. / Der Erde Riegel schlossen sich hinter mir ewiglich."

Jona verzweifelt, er fleht sein objektiv sinnloses Flehen. Aber es ist nicht sinnlos. Er wird gerettet in ein neues Leben. Deswegen findet man den Fisch als Osterzeichen schon auf den Gräbern der ersten christlichen Jahrhunderte, als Symbol für die Auferstehung.

Wer das Flehen des Jona liest, der hört, wenn er sich nicht die Ohren zuhält, die Schreie der Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken. Ihnen, diesen Flüchtlingen, widme ich dieses Kapitel der Bibel zu diesem Ostern. "In den letzten Tagen kannten wir uns selbst nicht mehr; entweder beteten die Leute oder sie starben gerade", berichtet Abu Kurke Kebato, ein junger Mann aus Eritrea, der den Abstieg ins Reich des Todes erlebte. In Libyen hatte er ein Schiff nach Lampedusa bestiegen, zusammen mit 71 anderen Schutzsuchenden, darunter zwanzig Frauen und zwei Kleinkinder. Auf hoher See wurde es manövrierunfähig, so wie kürzlich das Kreuzfahrtschiff Viking Sky; die Welt fieberte hier mit, als 500 Passagiere per Helikopter gerettet wurden.

Die Globalisierung der Gleichgültigkeit geht unaufhaltsam voran

Abu Kurke Kebato erging es anders: Zwar kam ein Hubschrauber, der warf Wasserflaschen und Kekse ab. Aber das war die erste und letzte Unterstützung, die die Schiffbrüchigen sahen. Tage später wurden sie in die Nähe eines Flugzeugträgers getrieben. Zwei Jets starteten und flogen niedrig über das Schiff. Die verzweifelten Menschen standen an Deck, hielten Benzinkanister und die zwei verhungernden Kinder in die Höhe. Sie blieben ungehört. "Jeden Morgen, wenn wir aufwachten, fanden wir mehr Leichen", erzählt Abu Kurke Kebato. "Wir behielten sie für 24 Stunden und warfen sie dann über Bord." Es kam kein rettender Fisch. Warum auch sollte da ein Gott einen Fisch schicken, wenn so viele Menschen am Ort sind, die zu Hilfe kommen könnten? Nach 15 Tagen strandete das Totenschiff an der libyschen Küste und spie die Flüchtlinge dort aus, woher sie geflohen waren. Nur elf Menschen lebten noch. Einer von ihnen starb, da hatten sie gerade Land erreicht. Ein anderer starb kurz darauf im Gefängnis, in dem sie sogleich festgesetzt wurden. Abu Kurke Kebato überlebte, indem er seinen Urin trank und sich von zwei Tuben Zahnpasta ernährte. Diese Geschichte ereignete sich 2011. Gebessert hat sich nichts. Verschlimmert alles.

Damals erregte dieser Bericht viel Aufsehen; heute gibt es ein Wegsehen; es gibt heute die Veralltäglichung der Hilfsverweigerung. Damals wurden Kommissionen gebildet, um die unterlassene Hilfeleistung zu untersuchen. Dem Europarat zufolge hätten alle Flüchtlinge "gerettet werden können, wenn alle Beteiligten ihren Verpflichtungen nachgekommen wären". Die europäische Politik hat genau diese Verpflichtungen seitdem allesamt abgeschüttelt. Es soll beim ewigen Abstieg der Flüchtlinge bleiben. Die "Globalisierung der Gleichgültigkeit", die Papst Franziskus 2013 angeprangert hat, griff weiter um sich. Die Europäer sind froh, dass die libysche Küstenwache, gut bezahlt von Italien und der EU, die Flüchtlingsboote zurückschleppt an die Küste und die Flüchtlinge in Lagern interniert. Was dort mit den Flüchtlingen geschieht, will man lieber nicht wissen.

Fern ist das Jahr 2015, als das Foto der angespülten Leiche des kleinen Aylan Kurdi um die Welt ging. Staatliche Rettungsaktionen gibt es nicht mehr. Private Rettungsaktionen auch kaum noch, weil die Seenotrettung der Hilfsorganisationen von der Politik behindert und verleumdet wird. Und Handelsschiffe, die Flüchtlinge aufnehmen, werden von den Behörden so schikaniert, dass sie das nicht mehr tun.

Die Klage des Jona ist die Klage vieler Tausend Menschen, die das Meer verschlungen hat, weil niemand hilft; weil die Schiffe an den ertrinkenden Flüchtlingen vorbeifahren; weil die Flugzeuge über sie hinwegfliegen; weil Leute wie der italienische Innenminister Salvini der Meinung sind, Menschenopfer müssten sein, um die "Flüchtlingswelle" zu beruhigen. Christliche Politiker haben nicht widersprochen; sie haben keine "Allianz der Hilfsbereiten" gebildet. Europa hat die Flüchtlinge verurteilt: zur Internierung in Lagern oder zum Tod durch Ertrinken.

Keine Rettung, keine Auferstehung, kein Ostern. Der "dritte Tag" bleibt aus. Grabesruhe. Am Karsamstag schweigen alle Glocken. Keine Blumen schmücken die Kirche. Alle Kerzen sind verloschen. Die Bibel ist zugeschlagen. Das ändert sich am nächsten Tag. Da beginnt der Osterjubel. Für die Flüchtlinge aber bleibt es beim ewigen Karsamstag. An einigen Kirchtürmen wehen darum in diesen Tagen Rettungswesten.

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Kolumne von Heribert Prantl

Heribert Prantl ist seit 1. März 2019 Kolumnist und ständiger Autor der Süddeutschen Zeitung. Zuvor leitete er das Ressort Meinung sowie die Innenpolitik und war Mitglied der Chefredaktion. Alle seine Kolumnen finden Sie hier.

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