Polen nach der Wahl:Geduldsprobe im Sejm

Lesezeit: 3 min

Donald Tusk, Parteichef der Bürgerplattform, hat nun wieder einen Sitz im Unterhaus - und muss nicht mehr auf dem Besucherbalkon Platz nehmen. (Foto: Kacper Pempel/Reuters)

Das neu gewählte polnische Unterhaus tritt zum ersten Mal zusammen. Das Bündnis um Donald Tusk hat seinen Koalitionsvertrag schon unterzeichnet. Den Auftrag zur Regierungsbildung bekommt trotzdem erst ein anderer.

Von Viktoria Großmann, Warschau

Die Absperrungen vor dem Sejm im Zentrum Warschaus sind weg. Das erscheint vielen polnischen Kommentatoren an diesem Tag als deutlichstes Zeichen, dass neue Zeiten anbrechen. Lange waren die Zugänge zum polnischen Unterhaus mit Eisengittern gesichert worden, es wirkte abschreckend. Natürlich gibt es trotzdem Sicherheitszugänge, es kann nicht jeder einfach ins Abgeordnetenhaus gehen. Aber die Sperren wurden von Bürgern abgebaut, und man ließ sie gewähren.

An diesem Montag hat in Polen die neue Legislaturperiode begonnen, die Mehrheitsverhältnisse in Sejm und Senat haben sich verändert. Eine neue Regierung aber gibt es noch nicht. Andrzej Duda hatte die erste Sitzung so lange hinausgeschoben, wie es ging. An diesem Montag um 12 Uhr nun berief der Präsident die erste Sitzung des polnischen Unterhauses nach den Wahlen vom 15. Oktober ein. "Ich erkläre meine Bereitschaft, mit dem neuen Parlament zusammenzuarbeiten", sagte er in seiner Ansprache am Montagmittag.

Tusk will Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung wiederherstellen

Das führte zu Gelächter auf den Bänken der bisherigen Opposition, die nun die Regierung übernehmen will. Drei Parteienbündnisse haben sich zu einer Zusammenarbeit bekannt, schon vor der Wahl. Nach der Wahl zeigte sich: Donald Tusks konservativ-liberale Bürgerkoalition, das christlich-grüne Bündnis "Dritter Weg" und die Linke kommen auf 248 Sitze im Sejm, das reicht bei insgesamt 460 Sitzen locker für eine gemeinsame Mehrheit. Am Nachmittag um 16 Uhr trat der neu gewählte Senat erstmals zusammen, im Oberhaus konnte das Tusk-Lager seine Mehrheit noch ausbauen.

Präsident Duda aber erklärte, er werde am Montagabend zunächst dem bisherigen Premier Mateusz Morawiecki den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen. Seine rechtsnationalistische Partei Recht und Gerechtigkeit, PiS, war erneut stärkste Kraft geworden, hat aber ihre Mehrheit verloren. Sie kommt auf 194 Sitze - und findet keinen Partner.

Das Lager um Donald Tusk hingegen hatte am Freitag bereits eine Koalitionsvereinbarung unterzeichnet. Die insgesamt vier Parteien wollen die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung wiederherstellen, die staatlichen Medien entpolitisieren. Es geht um bessere Gesundheitsversorgung, um den Schutz von Umwelt und Klima, unideologische Bildung, auch ein Bekenntnis zur Gleichheit aller sexuellen Orientierungen ist enthalten.

Doch die Koalitionäre brauchen noch Geduld. Polen erwarten noch bis zu zwei Wochen, in denen die PiS-Partei offiziell versuchen kann, ihre Macht zu retten. Niemand rechnet ernsthaft damit, dass ihr das gelingt. Danach dürfen die Sejm-Abgeordneten einen Kandidaten bestimmen, der eine Regierung bilden soll. Das wird voraussichtlich Donald Tusk sein.

Die Linke will Schwangerschaftsabbrüche legalisieren

Vor diesem warnte der Vorsitzende von PiS am Samstag, dem polnischen Unabhängigkeitstag, noch einmal ausdrücklich. Polens Unabhängigkeit sei erneut bedroht, sagte Jarosław Kaczyński - und zwar durch die EU. Vor allem durch das Vorhaben, das Prinzip der Einstimmigkeit bei Abstimmungen aufzugeben. Deutschland und Frankreich bauten damit ihren Einfluss aus, sagte der 74-Jährige, und verband das mit einer Warnung vor Donald Tusks Partei Bürgerplattform: "Deshalb kämpfen wir darum, dass es keine Regierung der Bürgerplattform geben wird, denn es ist eigentlich eine deutsche Partei."

Dass PiS von der Macht verdrängt wird, zeigte sich allerdings auch in der Wahl des Sejm-Marschalls Szymon Hołownia, der 265 Stimmen erhielt. Die PiS-Partei verlor das Amt des Vorsitzenden über das Unterhaus. Und die Linke wollte bereits am ersten Sitzungstag zwei Gesetzentwürfe einbringen. Die Linke ist entschlossen, Schwangerschaftsabbrüche zu legalisieren und eine Fristenregelung bis zum Ende der zwölften Schwangerschaftswoche durchzusetzen. Dieses Wahlversprechen hatte auch die Bürgerkoalition abgegeben.

Doch der "Dritte Weg" stellt sich quer. Dieses Wahlbündnis aus der christlichen Umweltpartei Polska 2050 und der Bauernpartei PSL eint die christlich-konservative Sichtweise auf die Familienpolitik. Beide Parteien wollen eine Rückkehr zum Abtreibungsgesetz vor der PiS, das mehr Ausnahmen vom Abbruchverbot vorsah. Nur die Legalisierung machen sie nicht mit.

Keine "Gefriertruhe" für umstrittene Vorhaben

"Das Leid der Frauen kennt keine politische Farbe", sagte nun Linken-Politiker Robert Biedroń im privaten Fernsehsender TVN. Er rief den "Dritten Weg" auf, sich nicht querzustellen und erinnerte an die Hunderttausenden Demonstranten in vielen polnischen Städten, die gegen das strikte Abtreibungsrecht protestiert hatten.

Alle Nachrichten im Überblick
:SZ am Morgen & Abend Newsletter

Alles, was Sie heute wissen müssen: Die wichtigsten Nachrichten des Tages, zusammengefasst und eingeordnet von der SZ-Redaktion. Hier kostenlos anmelden.

Umfragen zeigen, dass zwischen 70 und 80 Prozent der Menschen in Polen eine Legalisierung von Abbrüchen befürworten. Viele Frauen waren auch wegen der Hoffnung auf ein liberales Gesetz zur Wahl gegangen, die Parteien und mehrere Frauen- und Bürgerrechtsorganisationen hatten gezielt Frauen aufgerufen, wählen zu gehen. Die Wahlbeteiligung unter Frauen war etwas höher.

Der Vorsitzende von Polska 2050, Szymon Hołownia, erklärte, diese Projekte würden "selbstverständlich" bearbeitet, anders als in der PiS-Regierung gebe es keine "Gefriertruhe" für umstrittene Vorhaben. Im neuen Sejm sind knapp ein Drittel der Abgeordneten Frauen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusMeinungPolen
:Der parteiische Präsident

Die PiS hat keine Mehrheit mehr im Parlament und erhält doch erst einmal den Auftrag, eine Regierung zu bilden. Das schadet dem Land, vor allem aber vergibt Andrzej Duda damit eine große Chance.

Kommentar von Viktoria Großmann

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: