Interview:"Man kann das Schulsystem nicht komplett anhalten und neu sortieren"

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"Natürlich müssen unsere Schulen besser werden": Der Hamburger Schulsenator Ties Rabe bei einem Klassenbesuch in Hamburg-Harburg. (Foto: Marcus Brandt/dpa)

Hamburgs Senator Ties Rabe ist Deutschlands dienstältester Kultusminister. Er fordert rasch Konsequenzen aus dem Pisa-Debakel - allerdings verbunden mit einer Warnung.

Interview von Kathrin Müller-Lancé

Für Ties Rabe ist es die vierte Pisa-Studie, die er in seinem Amt erlebt. Der ausgebildete Lehrer und SPD-Politiker ist seit 2011 Hamburger Schulsenator und damit der dienstälteste Kultusminister Deutschlands. Seine Bilanz lässt sich sehen: In bundesweiten Vergleichstests schneiden die Hamburger Schülerinnen und Schüler regelmäßig besser ab als der Durchschnitt. Wie blickt Rabe auf die Ergebnisse des aktuellen Pisa-Berichts? Was muss sich jetzt ändern?

SZ: Herr Rabe, eine der Autorinnen der Pisa-Studie spricht von einem "Schock mit Ansage". Haben die Ergebnisse Sie überrascht?

Ties Rabe: Nein. Seit der Corona-Pandemie gab es eine Reihe von Studien, die gezeigt haben, dass die Leistungen von Schülerinnen und Schülern in westeuropäischen Ländern und auch in Deutschland stark zurückgegangen sind. Die Kultusminister haben in der Pandemie von Anfang an davor gewarnt, die Schulen zu schließen, weil ihnen klar war, was dabei herauskommt. Ich bin heute ein wenig überrascht von all denen, die damals längere Schulschließungen eingefordert haben und die jetzt so tun, als lägen die Ursachen für den Leistungsrückgang ganz woanders.

Auch andere Länder hatten ihre Schulen während der Pandemie geschlossen. Trotzdem sind die Leistungen der deutschen Schüler besonders stark abgefallen.

Das liegt zum einen daran, dass Deutschland bei der Digitalisierung der Schulen im internationalen Vergleich sehr weit hinten ist. Dort wo die Digitalisierung schon weit ist, haben sich die Schulschließungen tatsächlich nicht so dramatisch ausgewirkt. Zum anderen hat sich die Schülerschaft in Deutschland in den vergangenen Jahren stark verändert. Es gibt immer mehr zugewanderte Kinder, deren Eltern zu Hause bei Schulaufgaben nur wenig helfen können. Für diese Kinder hatten die Schulschließungen verheerende Folgen.

Seit Monaten streiten Bund und Länder um das Startchancenprogramm, das genau solche Schülerinnen und Schüler unterstützen soll. Nun ist nicht mal sicher, ob es zum nächsten Schuljahr kommt. Sind die Probleme nicht ein bisschen zu dringlich für so viel Hin und Her?

Das Bundesbildungsministerium hätte mit den Verhandlungen über das Startchancenprogramm viel früher anfangen müssen. Wobei es dabei auch um ein Programm über zehn Jahre und mehrere Milliarden Euro geht. Dafür sind die Verhandlungen nicht ungewöhnlich schwierig. Klar ist aber auch: Das Startchancenprogramm allein wird nicht reichen, um die Probleme sozial benachteiligter Schüler zu lösen. Deutschlands Schulen kosten etwa 90 Milliarden pro Jahr, da macht die eine Milliarde des Startchancenprogramms mehr oder weniger nicht viel aus.

In der Pisa-Studie ist jeder dritte Fünfzehnjährige an leichten Matheaufgaben gescheitert. Muss sich das deutsche Bildungssystem grundlegend ändern?

Die Forderung nach einem kompletten Neuanfang oder Neustart des Schulwesens ist die beste Methode, um den Karren an die Wand zu fahren. Man kann ein System, das fünfmal so groß ist wie die Bundeswehr, 26 Millionen Schüler und Eltern betrifft und jeden Tag auf Hochtouren läuft, nicht mal eben komplett anhalten und neu sortieren. Evolution statt Revolution, das ist der Weg für eine erfolgreiche Schulpolitik. Natürlich müssen unsere Schulen besser werden, aber das geht nur, wenn man an vielen Stellschrauben vorsichtig dreht und mit den Lehrerinnen und Lehrern zusammenarbeitet. Wir in Hamburg zum Beispiel haben unsere Schulen nicht in die Luft gesprengt - und uns trotzdem in den vergangenen zehn Jahren im Vergleich zu vielen anderen Bundesländern stark verbessert.

Sie haben in Hamburg eine Vorschulpflicht für Kinder ab fünf Jahren eingeführt, die in Deutschtests besonders schlecht abschneiden. Ist das so eine Stellschraube?

Das kann ein Baustein sein. Wobei es auch in Frankreich eine Schulpflicht vor der eigentlichen Einschulung gibt, und trotzdem ist die Lesekompetenz der Schüler noch schlechter als in Deutschland.

Was braucht es noch?

Das gesamte Schulsystem muss sich stärker auf die Förderung benachteiligter Kinder konzentrieren. Wenn die Eltern nicht mehr so helfen können wie früher, brauchen wir mehr Zeit in der Schule, mehr Ganztagsangebote. Diese Zeit müssen wir dann aber auch richtig nutzen und uns stärker auf die Kernfächer Deutsch und Mathematik konzentrieren. Wer nicht lesen kann und kein Zahlenverständnis hat, kann auch kein Biologiebuch entziffern und keinen Dreiviertel- von einem Viervierteltakt in Musik unterscheiden. Das bedeutet aber auch, dass wir die schwierige Abwägung treffen müssen, in welchen anderen Fächern wir Stunden reduzieren.

Ist der Pisa-Schock auch hilfreich, weil er wachrüttelt?

Es gab 2000 schon einmal einen Pisa-Schock, damals war man aber klüger und hatte weder den Wunsch, das Schulsystem mal eben komplett umzukrempeln, noch den Föderalismus abzuschaffen. Es wurden Schritt für Schritt Förderprogramme auf den Weg gebracht und mehr Lehrkräfte eingestellt. Nach zehn Jahren konnte Deutschland seinen Rückstand so tatsächlich in einen Vorsprung umwandeln. Daran sollten wir uns jetzt erinnern.

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