Sicherheitspolitik:Erwartungsmanagement an der Ostflanke

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Bundeskanzler Olaf Scholz mit Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Bei seinem Besuch in Estland bekräftigt Bundeskanzler Scholz seine Entschlossenheit zur Nato-Verteidigung. Die Hoffnungen auf Deutschland sind groß.

Von Paul-Anton Krüger, Tallinn

Vielleicht hatten die estnischen Behörden die Sicherheitspanne mit dem Bundeskanzler am späten Donnerstagabend am Flughafen Frankfurt mitbekommen, bei der sich ein Mann mit seinem Privatauto der Wagenkolonne angeschlossen und Olaf Scholz auf dem Vorfeld erst die Hand geschüttelt hatte und ihn dann sogar umarmte. Als der deutsche Regierungschef am Freitag in Tallin landet, schweben jedenfalls schon zwei Militärhubschrauber in der Luft, die den Konvoi bis zum Stenbockhaus begleiten, dem Regierungssitz, wo ihn Ministerpräsidentin Kaja Kallas empfängt.

Vor wenigen Monaten noch waren die Zweifel im Baltikum groß, ob Deutschland ein verlässlicher Verbündeter sei. Da ging es in Berlin darum, ob die Bundesrepublik der Ukraine auch Kampf- und Schützenpanzer liefert, um sich gegen den Überfall durch die russische Armee zu verteidigen. Das Zögern des Kanzlers löste schwere Irritationen aus in den traditionell engen und guten Beziehungen zu Estland, Lettland und Litauen.

Für diese Nato-Partner ist der Krieg in der Ukraine eine existenzielle Frage. Sie fürchten nicht erst seit dem 24. Februar des vergangenen Jahres, dass die imperialistischen Ambitionen des russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht in der Ukraine enden. Inzwischen ist Deutschland zum wichtigsten Unterstützer der Ukraine nach den USA geworden. Man sei froh, sagt Kallas, dass die drei baltischen Länder vor dem Nato-Gipfel Mitte Juli in Litauens Hauptstadt Vilnius die Gelegenheit hätten, sich mit dem Regierungschef Deutschlands, dieses wichtigen Verbündeten, zu besprechen.

Deutschland solle eine "Führungsrolle" einnehmen, fordern die drei baltischen Staaten

Lettlands Premier Arturs Krišjānis Kariņš und seine litauische Kollegin Ingrida Šimonytė stoßen wenig später im Amtssitz der Rechtskanzlerin dazu; die Gastgeberin und der Kanzler erwarten sie dort nach ihrem kurzen Spaziergang durch die Kopfsteinpflaster-Gassen der Altstadt von Tallinn. Die Erwartungen an Deutschland allerdings sind weiter hoch, mit Blick auf die Unterstützung der Ukraine ebenso wie bei der Verteidigung der Ostflanke der transatlantischen Allianz. Für Sicherheit und Frieden in Europa sei es erforderlich, dass Deutschland "eine Führungsrolle" einnehme in der Nato und in der EU, die sich in die Lage versetzen müsse, sich militärisch zu verteidigen.

Von Deutschland, das machen alle drei baltischen Regierungschefs klar, wünschen sie sich eine Unterstützung für eine klare Beitrittsperspektive der Ukraine zur Nato, etwa eine formelle Einladung auf dem Gipfel in Vilnius. Es wäre sehr traurig, wenn der Kreml die Ergebnisse des Treffens der Staats- und Regierungschefs als Erfolg bei seinen Bemühungen verkaufen könnte, die Ukraine aus der Allianz herauszuhalten, sagte die litauische Ministerpräsidentin Šimonytė. Deswegen sei es wichtig, dass man in Vilnius die richtigen Worte finde.

Die Bundesregierung unterstützt zwar die schon 2008 in Bukarest formulierte und zeitlich unbestimmte Beitrittsperspektive, verweist aber zugleich darauf, dass die Ukraine dem Bündnis nicht beitreten könne, solange sie sich im Krieg mit Russland befindet und die Frage ihrer Grenzen nicht abschließend geklärt ist.

Šimonytė dankte Deutschland für sein Engagement in der Region. Die Bundeswehr führt einen multinationalen Nato-Kampfverband in Litauen mit einer Gesamtstärke von derzeit etwa 1700 Soldatinnen und Soldaten, unter ihnen etwa 1000 Angehörige der Bundeswehr. Großbritannien und Kanada sind für die Einheiten in Estland und Lettland verantwortlich. Mit dieser vorgeschobenen Präsenz reagierte die Allianz im Jahr 2017 auf die Annexion der Krim durch Russland.

Vilnius sähe die deutsche Brigade gern dauerhaft im Land stationiert

Scholz hat Litauen im Sommer 2022 zudem zugesagt, eine ganze Brigade zur Verteidigung bereitzustellen. Teile des Gefechtsstandes hat die Bundeswehr dauerhaft am Standort Rukla stationiert; es ist das Bindeglied zu den litauischen Streitkräften. Allerdings würde es die Regierung in Vilnius gerne sehen, wenn Deutschland die gesamte Brigade mit etwa 3500 bis 4000 Soldatinnen und Soldaten dauerhaft im Land stationieren und sie nicht wie von der Bundesregierung geplant in Deutschland für eine schnelle Verlegung bereithalten würde.

Um Putin wirksam abzuschrecken, brauche es "Stiefel am Boden", sagte Šimonytė und verwies auf die jüngsten Ankündigungen des Kreml, laut denen die Verlegung von russischen Atomwaffen auf das Territorium von Belarus begonnen habe. Die gesamte Ostflanke der Nato müsse zudem mit bodengestützten Flugabwehrsystemen geschützt werden, verlangte sie. Die baltischen Staaten beteiligen sich an der deutschen Initiative European Sky Shield zur gemeinsamen Beschaffung von solchen Systemen und zur Errichtung einer integrierten europäischen Luftverteidigung.

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Estland und Lettland wollen zudem das deutsche Luftverteidigungssystem Iris-T kaufen, wie der lettische Premier Kariņš bekräftigte. Deutschland hat das System des Hersteller Diehl Defence mit Sitz in Überlingen and die Ukraine geliefert, wo es sich als äußerst effektiv bei der Abwehr russischer Lenkwaffen erwiesen hat. Die Entscheidung hatte der estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur am Sonntag in Riga nach einem Treffen mit der Verteidigungsministerin von Lettland, Inara Murniece, bekanntgegeben. Details sind noch nicht bekannt, jedoch soll es sich um das größte Rüstungsgeschäft seit Lettlands Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Jahr 1991 handeln; von mehreren hundert Millionen Euro ist die Rede.

Scholz sicherte den baltischen Staaten nochmals zu, dass Deutschland bereit sei, "jeden Quadratzentimeter Nato-Territorium zu verteidigen" und fügte hinzu: "Das meine ich genau so". Deswegen richte Deutschland seine Verteidigung auf Nordosteuropa aus, beteilige sich mit Eurofighter-Kampfjets an der Luftraumüberwachung im Baltikum, habe seine Marinepräsenz in der Ostsee erhöht und insgesamt 17000 Soldaten für die schnelle Eingreiftruppe der Nato abgestellt. Auch sollen deutsche Patriot-Batterien zum Schutz des Nato-Gipfels nach Litauen verlegt werden, wie das Bundesverteidigungsministerium am Abend in Berlin bekanntgab.

Auf wenig Gegenliebe dürfte in Berlin allerdings der Vorschlag der baltischen Staaten stoßen, auf dem Gipfeltreffen in Vilnius die angestrebten Verteidigungsausgaben auf drei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts anzuheben. Deutschland hat trotz der Zeitenwende und des Sondervermögens von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr im Jahr 2022 das vereinbarte Ziel von zwei Prozent deutlich verfehlt und wird es voraussichtlich auch im laufenden Jahr nicht erreichen. Die baltischen Staaten dagegen werden die drei Prozent 2023 wohl erreichen.

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