Nazi-Verbrechen im Zweiten Weltkrieg:Skrupelloses Morden für die SS-Karriere

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Julien Reitzenstein: Das SS-Ahnenerbe und die "Straßburger Schädelsammlung" - Fritz Bauers letzter Fall. Duncker & Humblot Berlin 2018, 495 Seiten, 69,90 Euro. (Foto: Verlag)
  • Der forensische Historiker Julien Reitzenstein hat eine luzide Studie zur "Straßburger Schädelsammlung" vorgelegt.
  • Die Arbeit zeichnet die Ermordung von 86 KZ-Häftlingen für pseudo-medizinische Zwecken akribisch nach.
  • Demnach war der Täter SS-Hauptsturmführer Bruno Beger, der nach dem Zweiten Weltkrieg seine Schuld verschleiern konnte.

Rezension von Wolfgang Benz

Bei der Einnahme Straßburgs am 23. November 1944 fiel der US-Army im Institut des Anatomieprofessors August Hirt eine dubiose Skelett- und Schädelsammlung in die Hände. Es war die Hinterlassenschaft eines der grauenhaften Projekte an der "Reichsuniversität", die pervertierte Wissenschaftler unter der Ägide der SS betrieben hatten. 86 KZ-Häftlinge waren ermordet worden, weil man ihre Skelette zu höchst zweifelhaften rasseanthropologischen Studien verwenden wollte.

Die Wirkung der Entdeckung in der Öffentlichkeit der alliierten Staaten war enorm. Der Daily Telegra ph schrieb am 3. Januar 1945, dass Juden und bolschewistische Kommissare für die Zwecke einer pervertierten Medizin ausgewählt wurden.

Abstruse Forschungsideen, die Himmler sofort überzeugten

Die gesittete Welt war fassungslos über solche Nachrichten aus dem untergehenden Nazireich. Im Juli 1944 hatte die Rote Armee in Polen bei der Befreiung des Vernichtungslagers Lublin-Majdanek erstmals die Überreste einer nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie entdeckt, dann wurden immer weitere schreckliche Geheimnisse des NS-Regimes vor aller Welt offenbar.

Im Laufe der folgenden drei Monate, während die NS-Herrschaft zusammenbrach und ihr immer kleiner werdendes Territorium von alliierten Truppen erobert wurde, wiederholte sich das Entsetzen der Eroberer.

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Im KZ Dachau, das am 29. April 1945 befreit wurde, bot sich den Amerikanern der Anblick eines Güterzugs mit etwa 1000 Leichen von Häftlingen, die auf einem Evakuierungstransport aus Buchenwald zugrunde gegangen waren.

Die Straßburger Schädel- und Skelettsammlung, seit dem Nürnberger Ärzteprozess als Verbrechen des Anatomen August Hirt bekannt, gehört zu diesen Nazigräueln.

Julien Reitzensteins Buch erhellt den Sachverhalt. Bruno Beger, ein ehrgeiziger junger Anthropologe, der an der Tibet-Expedition der SS-Forschungsgemeinschaft "Ahnenerbe" 1938/39 teilgenommen, dann beim Rasse-Professor von Hitlers Gnaden Hans F. K. Günther in Jena promoviert hatte, spürte unbändigen wissenschaftlichen Tatendrang, den er mit einer Habilitation über "Die Wanderungswege der Indogermanen aufgrund nordischer Restbestandteile" zu stillen gedachte.

Gleichzeitig wollte er seiner stagnierenden SS-Karriere aufhelfen. Die Habilitation sollte ihm zum Lehrstuhl in Straßburg verhelfen, dem er eine Forschungsstelle des SS-Ahnenerbes anzugliedern hoffte.

Mutmaßungen über die Wanderung nordischer Menschen in irgendwelcher Vorzeit nach Innerasien, deren Nachfahren als Kommissare in der Roten Armee gedient haben könnten, bildeten Begers Forschungsdesign, dessen Abstrusität den Reichsführer SS, Himmler, sofort überzeugte. Beger reiste nach Auschwitz, suchte dort die Opfer aus, die anthropologisch vermessen, dann ins KZ Natzweiler verlegt und dort ermordet wurden. Die Leichen wurden in Hirts Institut präpariert, sie fielen den US-Truppen in die Hände.

Aber Hirt war lediglich Gastgeber des grauenhaften Unternehmens, er hatte andere Interessen, die er ähnlich skrupellos verfolgte. Er entzog sich Verfolgung und Strafe im Juni 1945 durch Selbstmord.

Skrupellos aus Ehrgeiz gemordet

Das war eine glückliche Fügung vor allem für den SS-Hauptsturmführer Bruno Beger, der mithilfe ebenso interessierter und belasteter Zeugen aus dem Ahnenerbe alle Schuld auf Hirt delegierte. Die Historiker haben ihm geglaubt und die Juristen auch.

Nur Generalstaatsanwalt Fritz Bauer wollte den Fall noch einmal aufrollen; und Michael H. Kater, dessen Dissertation über das SS-Ahnenerbe 1974 erschien, zweifelte an Hirts Alleinverantwortlichkeit.

Julien Reitzenstein, der sich der Spezies "forensischer Historiker" zurechnet, legt großen Wert auf präzise Beweisführung, zitiert deshalb auch oft und ausführlich aus den Quellen und nimmt der Eindringlichkeit seines Plädoyers für Wahrheit und Gerechtigkeit zuliebe auch Wiederholungen in Kauf. Das Ergebnis seiner Forschung ist keine angenehme, jedoch sehr notwendige Lektüre.

Die Wahrheit hinter den Legenden, die Reitzenstein in seiner luziden Studie zerstört, ist noch viel verstörender als der Befund selbst. Denn auch die Verbrechen von Straßburg fallen nicht dem einen Monstrum August Hirt (der freilich selbst ein medizinischer Krimineller war), sondern einem Mann zur Last, der - auch dieses ist typisch - skrupellos aus Ehrgeiz mordete, sich dann mithilfe von Komplizen als Gehilfe, als ahnungsloser Handlanger und Befehlsempfänger aus der Verantwortung stahl und mit milder Strafe davonkam.

Die Saga von den wenigen Monstern, die das Böse verkörpern und so viele Ahnungslose als Gehilfen in ihre Dienste nahmen, wurde zur Lebenslüge der Tätergeneration; als Legende lebt sie weiter. Seriöse Wissenschaft - das zeigt Reitzenstein - kann Augen öffnen.

© SZ vom 09.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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