Parlamentswahl:Das Leben nach Jacinda Ardern

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Neuseelands Premier Chris Hipkins hat viele Vorhaben seiner Vorgängerin Jacinda Ardern kassiert. (Foto: Nick Perry/AP)

In Neuseeland vor der Wahl zeigt sich das Dilemma aller Wohlstandsländer in Zeiten von Krieg und lahmer Wirtschaft. Kann es sich eine Regierung noch leisten, für grünen Fortschritt zu sein?

Von Thomas Hahn, Auckland

Wenn mit dem Regen die Erkenntnis über Auckland käme, könnte Hasini Wanigasuriya jetzt ins Trockene verschwinden. Aber so ist es natürlich nicht an diesem grauen Samstag in Neuseelands größter Metropole. Also marschiert sie mit den anderen Umweltaktivistinnen und -aktivisten unverdrossen weiter durch das nasse Wetter, in der einen Hand das Megafon, in der anderen eine Mappe mit Info-Material. Die Demonstration soll Wahlberechtigte dazu bewegen, bei der Parlamentswahl am 14. Oktober für eine Politik zu stimmen, die mit Reformen den Klimawandel aufhält - also letztlich gegen einen Regierungswechsel nach rechts, für eine Koalition der Labour-Partei von Premierminister Chris Hipkins mit den Grünen sowie der Ureinwohner-Partei Te Pāti Māori.

Keine einfache Forderung, das weiß die 23-jährige Krankenpflege-Studentin, denn Inflation und hohe Zinsen beschäftigen viele im Land gerade mehr als die Erderwärmung. Hat weitsichtige Politik zur Rettung des Planeten überhaupt noch eine Chance gegen profitorientierte Konservative, wenn die Masse der Normalverdiener um ihren Wohlstand bangt? "Schwierige Frage", sagt Hasini Wanigasuriya, während sie im Protestzug durch den Regen läuft, "weil wir jetzt Investitionen brauchen, die auf kurze Sicht teuer sein könnten, aber langfristig die Kosten für die Folgen zunehmender Unwetterkatastrophen senken." Man müsste Inflation und Klimawandel gleichzeitig bekämpfen - nur wie?

In der Corona-Krise brach der ertragreiche Tourismus ein

Die Wahl in Neuseeland lenkt den Blick auf das Dilemma aller Wohlstandsländer in Zeiten von Russlands Krieg in der Ukraine und stotternder Weltwirtschaft nach der Coronavirus-Krise. Wegen hoher Energiepreise sind Importe teuer. Die Pandemie traf Neuseelands Exportwirtschaft besonders stark, weil bis dahin Tourismus ihr einträglichster Pfeiler war. Und jetzt sind viele der 5,1 Millionen Bürgerinnen und Bürger derart von den Lebenshaltungskosten belastet, dass ihnen die nächste Rechnung größere Sorgen bereitet als Weltprobleme wie Klimawandel oder soziale Kluft.

"Bei dieser Wahl dreht sich alles um die Wirtschaft", sagt die konservative National Party mit dem Spitzenkandidaten Christopher Luxon in ihrem Programm. Und sie scheint damit den Zeitgeist zu treffen, nachdem von der Regierung in Wellington lange ganz andere Botschaften kamen. Denn von 2017 an bis zu ihrem Rücktritt im vergangenen Januar regierte ja Jacinda Ardern, eine weltweit gefeierte Labour-Lichtgestalt mit grünem Gewissen und Vielfaltsanspruch.

In Neuseeland ist die frühere Begeisterung für Ex-Premier Jacinda Ardern umgeschlagen in ein mehr oder weniger höfliches Jacinda-Bashing. (Foto: Mark Baker/AP)

Jacinda Ardern ist in den USA. Die Harvard-Universität hat sie als Dozentin und Forscherin gewonnen. Am 30. September meldete sie sich via Instagram aus New York mit einem Aufruf zur Fernwahl an alle Auslands-Kiwis. Dass sie für Labour und ihren Nachfolger Hipkins gestimmt habe, erwähnte sie auch, und am Donnerstag postete sie ein weiteres kurzes Video zur Wahl. Aber ansonsten ist Jacinda Ardern wirklich weg. Es gab Spekulationen, dass sie kurzfristig einfliegen könnte, um Hipkins' Wahlkampf zu unterstützen. Aber das fand wohl Labour selbst keine gute Idee. Denn im eigenen Land ist die Jacinda-Begeisterung umgeschlagen in ein mehr oder weniger höfliches Jacinda-Bashing.

Bei der Wahl 2020 mitten in der Pandemie führte Jacinda Ardern Labour noch zur absoluten Mehrheit. Jetzt schimpfen im Grunde nur eingefleischte Fans nicht über sie. Ihr Gutmenschen-Ansatz habe Wirtschaft und Sicherheit geschadet, sagen Unternehmer und Konservative. Umweltschützer fanden sie im Kampf gegen Treibhausgase zu lasch. Hasini Wanigasuriya im Protestzug von Auckland nennt ein Beispiel: "Aus der Landwirtschaft kommen 50 Prozent von Neuseelands Emissionen, ohne dass das bisher Folgen für sie gehabt hätte."

Manchen Bürgern sind Visionen zu teuer

Und Chris Hipkins? Der schob bald nach der Amtsübernahme viele der Ardern-Vorhaben auf oder kassierte sie ganz, wie etwa die Einführung einer Biokraftstoff-Pflicht, die das Autofahren teurer gemacht hätte. Weltverbesserung geht nicht in angespannten Zeiten - das war Hipkins' Botschaft, als er im Februar die ersten Einschnitte verkündete. "Es ist ein Eingeständnis, dass Regierungen nur eine begrenzte Bandbreite haben, um eine Vielzahl von Herausforderungen zu bewältigen", sagte er.

Hipkins kämpft immer noch um das Vertrauen jener, denen Visionen zu teuer sind. "Wir sind eine vom Export geleitete Wirtschaft, mein Job ist es also, Export-Möglichkeiten für neuseeländische Unternehmen zu stärken", sagt er und kann nicht leugnen, dass die Landwirtschaft mit ihrer umweltbelastenden Massenproduktion von Milch und Fleisch dabei ein bedeutender Faktor bleibt.

Die grünen Ardern-Bekenntnisse wiederholt er deshalb nicht. Aber reicht das, um Premier zu bleiben? Seine Gegner profitieren jedenfalls vom Jacinda-Überdruss. Luxons National Party verspricht vor allem Steuererleichterungen für den Aufschwung und Härte gegen Gang-Kriminalität. Ihre bevorzugte Koalitionspartnerin, die neoliberale ACT, ist noch rücksichtsloser, wenn es um komplizierte Fragen geht. Den Kampf gegen die Erderwärmung will sie dem Markt überlassen und das gleichberechtigte Mitregieren von Maori in diversen Politikbereichen abschaffen.

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Chris Hipkins hat in den vergangenen Tagen wortreich vor der eher simplen Sozialpolitik der Rechten gewarnt. Er ist ein gewandter Redner mit jugendlicher Ausstrahlung. Die jüngsten Umfragen sehen seine Labour-Partei im Aufwind. Die Koalition mit den Grünen und Te Pāti Māori ist nicht abgeschlagen. Trotzdem deuten die Prognosen auf einen Regierungswechsel hin. Dafür wird Christopher Luxon zwar wohl die Populisten-Partei New Zealand First in die Koalition aufnehmen müssen, weil National Party und ACT sonst nicht genügend Sitze haben. Aber Luxon hat schon gesagt, das würde er "als letztes Mittel" tun.

Für die Umweltaktivistin Hasini Wanigasuriya sind das schlechte Aussichten, und zwar auch wegen der Wirtschaft. "Lebensmittelpreise, Gesundheitsvorsorge, alles, was uns wichtig ist, wird viel teurer, wenn wir die Umwelt unter Stress setzen." Und die Studentin weiß, was hohe Lebensmittelpreise bedeuten. Sie muss damit gerade selbst umgehen. Hasini Wanigasuriya sagt: "Ich esse ein bisschen weniger als sonst."

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