Ein 28-Jähriger aus North Carolina marschiert in die Washingtoner Pizzeria "Comet Ping Pong". Der Mann heißt Edgar Maddison Welch, er ist mit einer Pistole und einem Sturmgewehr bewaffnet.
Seit einem Monat kursiert im Internet das Gerücht, Vertraute von Hillary Clinton betrieben vom "Comet" aus ein Pädophilie-Netzwerk. Auch Welch hat darüber gelesen. Am Sonntag fährt er sechs Stunden mit dem Auto, um zu prüfen, ob wirklich Kinder missbraucht werden. Er bedroht einen Angestellten und gibt mindestens einen Schuss ab. 45 Minuten sucht er nach dem Zugang zu einem Tunnel, von dem im Netz die Rede ist. Als er merkt, dass er keine "minderjährigen Sexsklaven retten" kann, lässt er sich verhaften; niemand wird verletzt. Welchs Aussage aus der Strafanzeige (hier als PDF) macht klar: Fake News aus dem Internet waren der Grund dafür, dass ein schwer bewaffneter Mann am helllichten Tag in einem wohlhabenderen Viertel der US-Hauptstadt ein Restaurant betritt, in dem Familien Pizza essen.
"Dies könnte bald Normalität werden", schreibt Washington-Post-Kolumnist Dana Milbank. Milbank ist einer jener Trump-Kritiker, denen mit Lynchmord gedroht wird: Er erhält E-Mails, in denen "Strick, Baum, Journalist" steht. T-Shirts mit einem solchen Aufdruck können auch online bestellt werden.
Sohn eines Trump-Beraters wird gefeuert
Seit Wochen läuft unter dem einfallslosen Schlagwort #Pizzagate eine Schmutzkampagne - vor allem gegen Hillary Clinton. Aus mehreren Gründen verdient diese Story Aufmerksamkeit: Sie zeigt, dass es nahezu unmöglich ist, frei erfundene Schmutzkampagnen zu stoppen. Und sie illustriert, dass Berater und mögliche Spitzenkräfte der Regierung von Bald-Präsident Donald Trump solche Fake News verbreiten. Mit dem designierten Sicherheitsberater Michael Flynn hat ausgerechnet der Mann über das Gerücht getweetet, der bald enormen Einfluss auf die US-Geheimdienste und das Militär haben wird und Trump oft als Letzter vor sicherheitspolitischen Entscheidungen berät (Details hier).
Trump selbst hat weder auf Twitter noch bei seinem abendlichen "Siegestour"-Auftritt in North Carolina den Vorfall kommentiert oder seine Millionen Fans zur Mäßigung aufgerufen. Flynns Sohn Michael junior wurde am Dienstag allerdings aus dem Transition-Team, das die Regierungsübernahme organisiert, geworfen. Während Vater Flynn seit seiner Nominierung zurückhaltend twittert, hatte der Sohn nach den Schüssen im Comet behauptet, die Lüge bleibe "eine Story" und sei noch nicht als "falsch" widerlegt worden.
Wie eine Lüge im Internet entsteht und wächst
Über die Schmutzkampagne rund um die Pizzeria "Comet Ping Pong" war schon Mitte November berichtet worden, auch die klärenden Artikel, etwa in der New York Times, die belegen, dass es sich um eine reine Verschwörungstheorie ohne jeden Beweis handelt, führten für Besitzer James Alefantis zu keiner Entspannung. Nun haben Buzzfeed News und die Washington Post nochmals nachrecherchiert, wie die #Pizzagate-Lüge aus dem Nichts geboren wurde.
Es beginnt am 28. Oktober mit dem Brief von FBI-Chef Comey, der neue Nachforschungen gegen Clinton wegen ihrer E-Mail-Server-Affäre ankündigt. Schnell wird klar: Auslöser sind Sexting-Ermittlungen gegen Anthony Weiner, den Ehemann der Clinton-Vertrauten Huma Abedin: Er hatte einer 15-Jährigen anstößige Nachrichten geschickt.
Am 30. Oktober verbreitet der Twitter-Account @DavidGoldbergNY einen Facebook-Post. Unter Berufung auf angebliche Quellen der New Yorker Polizei heißt es, dass Clinton im Zentrum eines internationalen Pädophilie-Rings stehe. Die Facebook-Nutzerin lebt in Missouri - und wie David Goldberg reagiert sie nicht auf Nachrichten des Buzzfeed-Autors. Der Tweet wird tausendfach verbreitet und findet seinen Weg auf andere Portale.
Der angebliche Kinderschänder-Ring taucht auf diversen Websites auf, etwa auf der Verschwörungsseite YourNewsWire.Com, und findet seinen Weg zu 4chan, einer Website, auf der jede Aussage und Meinung erlaubt ist. Auch ausländische Seiten, die mit erfundenen Trump-Storys viel Geld machen, übernehmen die Story und fügen neue Details hinzu. In aller Klarheit: Weder zu diesem Zeitpunkt und auch später nicht haben FBI, das New York Police Department oder eine andere Behörde auch nur etwas dazu gesagt.
Spätestens am 4. November ist #Pizzagate nicht mehr zu stoppen. Alex Jones von der sehr erfolgreichen ultrarechten Website Infowars.com spricht mehrfach von satanischen Ritualen, in die Clintons Wahlkampfleiter John Podesta verwickelt sei und wiederholt den Pädophilie-Vorwurf. Die Wahl steht kurz bevor, in einem Youtube-Video sagt Jones: "Hillary Clinton hat persönlich Kinder umgebracht und vergewaltigt. Ich muss mit der Wahrheit rausrücken."
Nach seinem Wahlsieg fand Trump übrigens Zeit, Alex Jones anzurufen und ihm zu danken (mehr bei Politico) - im Wahlkampf lobte Trump Jones' "hervorragenden Ruf". Und natürlich hat auch Breitbart News, die ultrarechte Website von Trumps neuem Chef-Strategen Steven Bannon, ausführlich über Pizzagate berichtet.
Laut Washington Post taucht am 7. November #Pizzagate erstmals bei Twitter auf. Nach Recherchen von Jonathan Albright von der Elon University gibt es viele Retweets aus Tschechien: Offenbar helfen Bots bei der Verbreitung. Ungefähr zu dieser Zeit wird erstmals die "Comet Ping Pong"-Pizzeria in Verbindung mit dem erfundenen Kinderschänder-Netzwerk genannt. Warum? Aus den von Wikileaks publizierten E-Mails von Clinton-Wahlkampfchef Podesta geht hervor, dass dieser manchmal im "Comet" gegessen hat.
Dass "Comet"-Besitzer James Alefantis früher mit dem Journalisten David Brock liiert war (Brock kämpft nun mit harten Bandagen für Clinton) und dort ein Spenden-Event stattfand, reicht der Online-Meute als Beleg. Im Laufe des Novembers werden sowohl Alefantis als auch die Eigentümer der umliegenden Lokale bedroht: Sie sollen den Kindesmissbrauch decken, immer häufiger ist von einem Tunnel die Rede. Am 27. November, nach Thanksgiving, stehen erstmals zwei Männer mit Protestschildern vor der Pizzeria.
Wegen Pizzagate gehen bei Comet-Besitzer Alefantis bis zu 150 Anrufe täglich ein, auch andere Gastronomen in der Gegend erhalten Todesdrohungen. Die Polizei sagt, dass sie nichts tun könne: Alle Aussagen und E-Mails seien durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Am Nachmittag des 4. Dezember betritt schließlich Edgar Welch die Pizzeria - bewaffnet.