Jean-Claude Juncker ist ein Mann des Wortes, was man an diesem Tag am besten daran erkennt, welches er vermeidet. "Es ist ein historischer Tag", wird Manfred Weber, der Fraktionschef der europäischen Christdemokraten, später sagen. Einige seiner Kollegen werden ihm zustimmen, andere werden das brüsk zurückweisen, aber Juncker wird die Vokabel selbst gar nicht verwendet haben. Seine Rede soll für sich sprechen, die Bedeutung des Tages, das Historische, soll sich aus seiner Ansprache heraus erklären - und natürlich aus dem Ergebnis. Jean-Claude Juncker, der Spitzenkandidat, der von den Staats- und Regierungschefs zähneknirschend Nominierte, ist in den Plenarsaal des Europaparlamentes gekommen, um ihn als gewählter Präsident der EU-Kommission zu verlassen.
Das ist tatsächlich neu, und Juncker lässt keinen Zweifel daran. "Sie sind das erste Parlament, das wirklich, im Sinne des Wortes, einen Kommissionspräsidenten wählt", schmeichelt Juncker zu Beginn seiner knapp 50 Minuten dauernden und leicht angespannt vorgetragenen Rede. Er würdigt, dass das Parlament auf dem Verfahren bestanden habe. Was nicht nur als Kompliment für den deutschen Sozialdemokraten Martin Schulz gemeint ist, der die Sitzung leitet - und der so gerne an Junckers Stelle gestanden hätte. Es soll sagen, dass eine neue Zeit anbricht. Die Präsidenten von Kommission und Parlament müssten besonders eng zusammenarbeiten, kündigt Juncker an. Was so als Verbeugung vor dem Parlament daherkommt, ist im Kern auch: ein Machtanspruch.
Mehr als erwartet: 422 der 751 Abgeordneten gaben am Ende ihre Stimme für Juncker ab
Im Parlament tritt der Luxemburger äußerlich als Freund unter Freunden auf. Er rangelt vor Sitzungsbeginn freundschaftlich mit dem Liberalen Guy Verhofstadt, wechselt vertrauensvolle Worte mit Parteifreund Weber, drückt durch Gesten und Blicke aus, sich hier heimisch zu fühlen. Aber er sagt eben auch: "Der Kommissionspräsident wird von Ihrem Hohen Hause gewählt. Dadurch wird der Kommissionspräsident aber nicht zu einem Befehlsempfänger, nicht zu einem Diener des Europaparlaments." Juncker versichert zugleich, der Kommissionspräsident sei nicht der "Sekretär" des Rates, also der Staats- und Regierungschefs. Selbstbewusstsein enthält Junckers Rede hoch dosiert.
Dazu scheint die Ausgangslage zunächst nicht uneingeschränkt Anlass zu geben. 376 der 751 Stimmen im Parlament benötigt der Luxemburger. Theoretisch kann er sich auf Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale verlassen, was etwa 480 Stimmen ergeben würde. Hinzukommen ein paar Anhänger aus den Reihen der Grünen und anderer Fraktionen. Klar ist aber auch, dass keine Fraktion wirklich geschlossen hinter dem Kandidaten steht. Die Liste der Skeptiker reicht von ungarischen Konservativen bis zu südeuropäischen Sozialisten. Mehr als 400 Stimmen, sagen Junckers Leute, das wäre ein Erfolg.
Juncker versucht also, möglichst vielen zu gefallen, ohne es allen recht zu machen. Er erntet Applaus mit der Klage über Regierungschefs, die zu Hause schlechtmachen, was sie in Brüssel selbst beschlossen haben. "Sagen Sie nie wieder, dass Sie in Brüssel einen Sieg errungen haben", verlangt der frühere Ministerpräsident von seinen Ex-Kollegen. "In Europa gewinnen wir gemeinsam, und gemeinsam verlieren wir." Ansonsten garantiert Juncker den Fortbestand des Stabilitätspaktes, preist die soziale Marktwirtschaft, bekennt sich zu Wachstum. Es ist eine Mischung, die für jeden etwas bereithält, die ein Band spannen soll zwischen Christdemokraten, Sozialisten und Liberalen.
Wirklich emotional aber wird der frühere Chef der Euro-Gruppe, als er über die gemeinsame Währung spricht. "Ich bin stolz, dass Griechenland noch Mitglied der Währungsunion ist", ruft er. Auf den Euro könne Europa stolz sein. Er trenne den Kontinent nicht, sondern schütze ihn. Damit bringt Juncker die Anti-Europäer von der britischen Ukip in Wallung. Sie toben und buhen übrigens auch, als Juncker sich auf seine Vorbilder beruft, auf Jacques Delors, François Mitterrand und Helmut Kohl.
"Wenn das die europäische Demokratie in Aktion ist, dann sollten wir es uns noch mal überlegen", fasst der Ukip-Chef Nigel Farage in seiner Entgegnung zusammen. Ein Staatsstreich sei es, der Juncker zum Kommissionspräsidenten mache und kein demokratischer Fortschritt. Junckers europäische Utopie gehöre "in den Papierkorb der Geschichte", sagt Marine Le Pen, die Chefin des französischen Front National. Von ihrer Seite habe er keine Stimme zu erwarten. An die Französin wendet sich Juncker kurz vor dem Wahlgang noch einmal persönlich: "Ich danke Ihnen, Frau Le Pen, dass Sie nicht für mich stimmen. Ich bin Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet." Es ist der Moment, in dem er große Teile des Parlaments zusammenschweißt.
Nach Auszählung der Stimmen und bevor er das Ergebnis verliest, spricht Schulz noch einmal vom "historischen Prozess", den man hier kröne. 422 Stimmen sind es schließlich für Juncker. Der gewählte Kommissionspräsident nickt, erlaubt sich keinen Jubel, wohl aber trockenen Humor, als er Schulz bittet, das Resultat auch wirklich an alle Regierungen zu übermitteln. Der erste, der Juncker schließlich gratuliert, ist: Bernd Lucke. Der Chef der Alternative für Deutschland, der einzelne Länder aus dem Euro hatte verabschieden wollen und der soeben endgültig mit dem Versuch gescheitert ist, Vizechef des Währungsausschusses zu werden. Juncker nimmt es - gelassen - hin. Bei der anschließenden Pressekonferenz würdigt Martin Schulz noch einmal den historischen Tag. Und Juncker sagt es mit seinen Worten: "Diesen Prozess wird man nicht mehr zurückdrehen können."