Nazi-Familiengeschichte des SPD-Vorsitzenden:Sigmar Gabriels überschattete Jugend

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SPD-Parteichef Sigmar Gabriel im Plenarsaal des Bundestages: Eine deutsche Lebensgeschichte. (Foto: dpa)

Der Vater war ein Tyrann und überzeugter Nazi: Lange hat Sigmar Gabriel öffentlich geschwiegen, nun spricht der SPD-Vorsitzende erstmals ausführlich über seine Familiengeschichte.

Ein Kommentar von Andrian Kreye

Jeder Wahlkampf kann auch zu einem Wettbewerb der Biografien werden. Jetzt hat der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel der Wochenzeitung Die Zeit seine Geschichte erzählt: wie er sein Leben lang unter seinem Vater leiden musste, der ihn als Kind der geschiedenen Mutter entziehen wollte, der ein Tyrann war, vor allem aber ein unverbesserlicher Nazi. Wie Gabriel deswegen immer der Zorn packt, wenn er etwas als ungerecht empfindet. Und wie er als Jugendlicher Freiwilligendienste in den KZ-Gedenkstätten von Auschwitz und Majdanek verrichtete.

Nun ist Sigmar Gabriel kein Kandidat. Nach dem Lesen der Geschichte findet man das schade. Denn in Gabriels Biografie steckt der Kern der deutschen Nachkriegsgeschichte, in der sich jede Familie mit ihrer Vergangenheit während der NS-Jahre befassen musste, in der sich die 68er an ihren Vätern und die 89er an ihren Großvätern abarbeiteten - und in der dieser Vergangenheit niemand je entkommen konnte, egal wie sehr er sich für Gerechtigkeit und Wahrheit engagierte.

Früher hätte Gabriel diese Geschichte geschadet

Es ist plausibel, dass Gabriel Zeit brauchte, die Last seiner Kindheit und des Nazi-Vaters zu verarbeiten, bevor er sie mit der Öffentlichkeit teilen konnte. In Amerika hätte so eine Geschichte zu so einem Zeitpunkt allerdings garantiert eine Funktion: Ihre Hauptfigur würde sich - zum Beispiel - angesichts des angeschlagenen Spitzenkandidaten auf der Ersatzbank positionieren. Oder den Spitzenkandidaten als Sympathieträger flankieren. Oder ihre eigene Kandidatur für die nächste Wahl vorbereiten.

Als es noch darum ging, wer für die SPD ums Kanzleramt kämpfen soll, hatte Gabriel seine Distanz zum sterbenden Vater geschadet. Weil diese Biografie aber so exemplarisch für das kollektive gestörte Verhältnis zur eigenen Herkunft steht, wird sie Wirkung haben, selbst dann, falls dies nicht beabsichtigt war.

Es ist zwar nicht so, dass deutsche Politiker das Spiel mit der eigenen Biografie immer verweigert hätten. Willy Brandts antifaschistische Jugend, Helmut Kohls Wurzeln in der Provinz und Gerhard Schröders ärmliche Kindheit als Dörfler waren auch politisches Kapital. Noch aber ist die Biografie als politisches Instrument in Deutschland ein amerikanischer Import.

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Auch dort ist diese Biografisierung des Wahlkampfs ein eher neues Phänomen. John F. Kennedy Anfang der sechziger Jahre und Ronald Reagan Anfang der Achtziger benutzten ihre Familien noch als politische Requisiten. George Bush der Ältere gab sich verschlüsselt. Erst Bill Clinton operierte als Präsidentschaftskandidat offensiv mit seiner Familiengeschichte.

Der ehemalige amerikanische Präsident Bill Clinton mit einem Baby: Er ging offensiv mit seiner Familiengeschichte um. (Foto: REUTERS)

Während seines ersten Wahlkampfs fand man sich dann mit etwas Glück im Wohnzimmer seiner wohlondulierten Mutter im tiefsten Arkansas, durfte Zierteller mit Rennpferden und Elvis bestaunen und bekam Pulverkaffee und staubige Kekse serviert. Man erfuhr von ihr, wie sie ihn alleine aufziehen musste, wie hart die Arbeit als Krankenschwester war und wie der junge Bill sie vor dem trunksüchtigen Stiefvater schützte. Zu einem Zeitpunkt, als sich sein Gegner George Bush Sr. gerade als weltfremder Elitenmensch entlarvt hatte, weil er bei einem Supermarktbesuch eine Scannerkasse nicht erkannte, wurde klar: Bill Clinton ist ein Mann des Volkes. Von ganz unten.

Barack Obama ging noch offensiver mit seiner Lebensgeschichte um. Er schrieb zwei Autobiografien und stand als Harvard-Absolvent und Sohn eines Kenianers und einer englischstämmigen Amerikanerin schon früh für die USA des 21. Jahrhunderts, in denen man es mit Bildung weit bringen kann und in denen ethnische Unterschiede keine Rolle mehr spielen.

Ein rein emotionaler Maßstab

Ob er es nun wollte oder nicht, mit seiner Geschichte vom geplagten, sozialdemokratischen Nazi-Sohn hat Sigmar Gabriel eine der emotional überzeugendsten Politikerbiografien skizziert. Zwischen dem soliden Kompetenz-Charisma der Kanzlerin und dem immer schwieriger zu vermittelnden Macht-Charisma Peer Steinbrücks steht Sigmar Gabriels Geschichte wie ein Mahnmal für Authentizität. Die hat weder für das Kindergeld, die Rentengerechtigkeit oder die Eurokrise irgendeine Bedeutung. Und doch könnte sie einen neuen Maßstab in der deutschen Politik setzen.

Weil dieser Maßstab rein emotional ist, wird man genau beobachten müssen, welche Wirkung die Geschichte entfaltet. Es ist gut möglich, dass ein Dilemma in die deutsche Politik Einzug hält: Einerseits lenken emotionale Biografien von den Inhalten ab, andererseits machen sie aber dem Wähler den Kandidaten viel deutlicher. Da aber steckt beides drin - die Gefahr des Populismus und der Ausweg aus der Tristesse der Parteien.

© SZ vom 11.01.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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