Verteidigungspolitik:Die Nato beschützt Schweden und Finnland schon jetzt

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Blick durch das Fenster eines Nato-Airbus: Ein schwedischer Kampfjet nimmt 2022 an der Nato-Übung "Cold Response" teil. (Foto: John Thys/AFP)

Solange die Türkei den Nato-Beitritt der beiden nordeuropäischen Länder blockiert, steht ihnen offiziell kein militärischer Beistand zu. Doch es werden längst Fakten geschaffen. Ein Blick hinter die Kulissen.

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Grauzonen sind etwas, das Sicherheitspolitiker überhaupt nicht mögen. Wenn die Verhältnisse unklar sind, wachsen Unsicherheit und Gefahr, weil aggressive Akteure versucht sein könnten, die Dinge in ihrem Sinne zu klären.

Wie das in der Praxis aussieht, kann man sich in der Ukraine anschauen: Das Land bekam 2008 von der Nato zwar die Zusage, dass es in die Allianz aufgenommen wird. Aber es wurde absichtlich kein Beitrittsdatum genannt, um Russland nicht zu provozieren. Das Aufnahmeversprechen diente eher dazu, die Ukraine auf Armeslänge zu halten.

2014 war die Ukraine daher schutzlos, als Russland die Krim annektierte und im Donbass einen Krieg anzettelte. Das galt auch, als die russische Invasion im Februar 2022 begann. US-Präsident Joe Biden beschrieb die Folgen, die dieses Festhängen in einer sicherheitspolitischen Grauzone für Kiew hat, sogar öffentlich. Amerika, so stellte er klar, werde jeden Zoll des Nato-Territoriums mit aller Macht verteidigen. Aber die Ukraine sei kein Nato-Mitglied. Deswegen werde er auch keine amerikanischen Soldaten schicken.

Formal stecken Schweden und Finnland in einer Grauzone fest - wie die Ukraine

Mit einem vergleichbaren Problem hat die Nato es derzeit im hohen Norden zu tun. Schweden und Finnland haben im vergangenen Frühjahr ihre jahrzehntelange Neutralität aufgegeben und wegen Russlands Angriff auf die Ukraine die Aufnahme in die Nato beantragt. In 28 der 30 Mitgliedsstaaten der Allianz haben die Parlamente den Beitritt der Nordländer bereits ratifiziert. Nur in Ungarn und der Türkei stehen die notwendigen Voten der Parlamente noch aus.

Für Schweden und Finnland bedeutet das: Bevor ihr Nato-Beitritt nicht in Budapest und Ankara abgesegnet worden ist, sind sie keine offiziellen Mitglieder. Für sie gilt deswegen bis dahin auch noch nicht die in Artikel 5 des Nato-Vertrags festgeschriebene Beistandsgarantie im Falle eines Angriffs. Völkerrechtlich gesehen stecken Schweden und Finnland damit in einer ähnlichen Grauzone fest wie die Ukraine.

Das ist im Moment kein sehr akutes Problem. Russland hat zwar wütend gegen Finnlands Nato-Beitritt gewettert, in praktischer Hinsicht aber nicht bedrohlich reagiert - bisher jedenfalls. Doch ein zweites Ukraine-Szenario, bei dem unklare Verhältnisse einen Aggressor ermutigen, will die Nato in Nordeuropa unbedingt vermeiden.

De facto hat die Allianz Schweden und Finnland daher bereits unter ihren Schutzschirm genommen, ungeachtet der ausstehenden Ratifikationen in Ungarn und der Türkei. Die Nato kann das aus juristischen Gründen nicht offen sagen. Aber es ist kein Zufall, dass sich seit einigen Wochen in den Reden von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg oft der Satz findet, es sei "undenkbar, dass die Nato nicht handelt", wenn die Sicherheit von Schweden und Finnland bedroht sei. Das kann man durchaus als Warnung an Russland verstehen. Schweden und Finnland seien "heute sicherer als vor ihrem Aufnahmeantrag", beteuert Stoltenberg zudem stets - ein weiterer verklausulierter Hinweis darauf, dass die Nato die Beitrittskandidaten verteidigen würde.

Im Nato-Hauptquartier gelten die Nordländer nicht bloß als Bewerber

Gleichzeitig treibt die Nato die Integration von Schweden und Finnland in die Strukturen und Institutionen der Allianz energisch voran, ohne auf ein Ja-Votum der Parlamente in Ungarn und der Türkei zu warten. Schwedische und finnische Diplomaten beider nehmen in Brüssel an den Sitzungen ihrer Nato-Kollegen teil, die Offiziere beider Länder werden in die Stäbe des Bündnisses eingebunden, Stockholm und Helsinki erhalten auch Aufklärungserkenntnisse der Allianz. Im Brüsseler Nato-Hauptquartier ist eine klare Mehrheit der Staaten der Ansicht, dass die Nordländer eher wie echte Mitglieder behandelt werden sollen, nicht wie bloße Bewerber.

"Die Nato zeigt, dass sie es ernst meint", sagt die Sicherheitsexpertin Minna Ålander vom Finnish Institute of International Affairs in Helsinki. "Schweden und Finnland sollen sehen, dass sie von ihrer Beitrittsentscheidung keine Nachteile haben. Schließlich war es - anders als bei anderen Ländern - seit Langem der Wunsch der Allianz, dass Schweden und Finnland beitreten. Und die Nato sieht nicht gut aus, wenn das jetzt blockiert wird."

Die Türkei steht weiter auf der Bremse

Wann diese Blockade endet, die den Ruf der Nato als geeintes Bündnis beschädigt, ist völlig offen. Das ungarische Parlament wird den Beitritt zwar voraussichtlich in den kommenden Wochen ratifizieren. Aber die Türkei steht weiterhin fest auf der Bremse.

Dabei hat Schweden die meisten Forderungen erfüllt, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gestellt hat. Unter anderem hat Stockholm ein Exportverbot für Waffen in die Türkei aufgehoben und sich von kurdischen Gruppen distanziert, die Ankara als Terrororganisationen bezeichnet.

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Allerdings verlangt Erdoğan auch die Auslieferung des nach Schweden geflohenen oppositionellen türkischen Journalisten Bülent Keneş. Da schwedische Gerichte das bereits abgelehnt haben, sieht die Regierung in Stockholm keinen Spielraum, der Forderung nachzukommen. "Die Türkei will Dinge, die wir nicht tun können und nicht tun werden", stellte Regierungschef Ulf Kristersson vor einigen Tagen klar.

In Brüssel hofft man, dass Erdoğan sein Pokerspiel spätestens im Sommer beendet. Im Juni findet in der Türkei die Präsidentschaftswahl statt, für Juli ist ein Nato-Gipfeltreffen in Vilnius geplant. Dort würde Stoltenberg Schweden und Finnland gern als neue vollwertige Mitglieder begrüßen.

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