Internationale Beziehungen:Ist der Nahe Osten noch zu retten?

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Der Jahrzehnte alte Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern ist einer der Brennpunkte des Nahost-Problems. (Archivbild) (Foto: REUTERS)

Israel, Iran, Syrien, Saudi-Arabien: Die Situation im Nahen Osten ist extrem angespannt, extrem kompliziert. Islamwissenschaftler Udo Steinbach entwirrt die Motive der Akteure - und nimmt Europa in die Pflicht.

Interview von Stefan Braun

Die Situation im Nahen Osten ist extrem kompliziert. Der Islamwissenschaftler Udo Steinbach, ehemaliger Direktor des Deutschen Orient-Instituts, sieht die Lage jedoch alles andere als hoffnungslos. Vor allem Europa nimmt er in die Pflicht.

SZ: Die schwerste Frage sofort: Ist der zerrüttete und zerrissene Nahe Osten noch zu retten?

Udo Steinbach: Ja, das ist er. Weil wir wissen, wie er in diese tiefe Krise hineingeraten ist. Im Großen gedacht heißt das Schlüsselwort Europa. Wir müssen wieder in eine Situation kommen, in der Europa entschlossen ist, an der Gestaltung seiner Nachbarschaft mitzuwirken. Und dies natürlich anders als nach dem Ersten Weltkrieg, als Briten und Franzosen auf der Landkarte Grenzen gezogen haben. Wir dürfen es nicht mehr von oben herab tun, nicht durch imperiales Gebaren, sondern auf partnerschaftlicher Ebene. Die Europäer müssen zu der Überzeugung kommen, dass die Zukunft Europas im 21. Jahrhundert untrennbar verbunden ist mit der Qualität der Beziehungen zu seiner Nachbarschaft.

Hat Europa das nicht längst verstanden?

Aus meiner Sicht nein. Mal hier ein bisschen Entwicklungshilfe, mal da ein bisschen Geld für die Flüchtlingslager - das reicht nirgendwo hin. Natürlich hat die Flüchtlingskrise gezeigt, dass wir dem gar nicht entkommen können. Trotzdem herrscht bis heute der Eindruck vor, dass Europa nur dann aktiv wird, wenn es gar nicht mehr anders geht. Ein klares Konzept und vor allem eine echte Bereitschaft zum Engagement sehe ich nicht.

Wie müsste die aussehen?

Europa muss sich in die Lage versetzen, wirklich handeln zu können. Und das gemäß seinen eigenen Werten. Menschenrechte, Pluralität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit - damit haben wir Kriterien, die für die Gesellschaften dort absolut attraktiv sind.

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Aber viele Gesellschaften wirken, als wollten sie genau das Gegenteil. Sie wirken verschlossen, patriarchalisch, abgrenzend und aggressiv.

Nur, wenn man sehr oberflächlich auf die Staaten der Region schaut. Wer genauer hinsieht, erkennt, welche Sehnsüchte sich darunter verbergen. Die Tatsache, dass Europa seine liberalen und demokratischen Prinzipien kontinuierlich verletzt hat, hat in diesen Staaten allerdings viel Misstrauen und Ärger hervorgebracht. Wir haben viel über Demokratie und Menschenrechte gesprochen, aber nicht entsprechend gehandelt. Das ist der Grund dafür, dass Europa ohnmächtig wirkt, als Partner unattraktiv geworden ist und als Ergebnis daraus anderen das Handeln überlassen hat. Den Amerikanern und den Russen und jetzt mehr und mehr auch den Chinesen.

Was heißt das konkret: Sich in die Lage versetzen, dort zu handeln? Würden Sie mit Russen und Amerikanern militärisch in den Ring steigen wollen?

Nein, das will ich nicht. Weil man die Region mit Waffen nicht befrieden kann. Schauen Sie auf das Beispiel Irak. Hat der Krieg von George W. Bush Frieden gebracht? Mitnichten. Man muss militärisch bereit sein, ernst genommen werden. Und das geschieht nur, wenn man als Europa auch eine glaubwürdige Streitmacht hat. Aber der Krieg ist kein Ziel. Das Ziel heißt: Auf Augenhöhe agieren können.

Ist das realistisch?

Warum denn nicht? Wenn Europa sich abstimmt, wenn Europa bei der Beschaffung nicht nebeneinander her, sondern gemeinsam agiert, arbeitsteilig handelt und nach außen eine geschlossene Streitmacht aufstellt, dann kann es eine Botschaft großer Entschlossenheit ausstrahlen.

Und dann?

Dann müssen wir ein Bild von der Gewichtung einzelner Mächte und einzelner Konflikte entwickeln. Da spielt natürlich der Iran eine große Rolle. Iran ist eine Macht, die im wachsenden Maße eine Vormacht sein will. Aber auch eine Macht, die in Wahrheit nach Europa möchte. Schauen Sie auf die iranische Gesellschaft - sie orientiert sich an Europa. Europa ist die Sehnsucht, nicht Russland oder China. Das müsste Europa eigentlich erkennen.

Stattdessen sucht die Führung andauernd den Konflikt mit Saudi-Arabien.

Es gibt natürlich Kräfte, die auf Konfrontation setzen. Aber die große Mehrheit der Menschen sehnt sich nach anderem - und gerät immer wieder in den Strudel von Hass und Streit. Das gilt ja verrückterweise genauso für Saudi-Arabien. Auch dieses Land will durch die Hintertür aus diesen Konflikten heraus. Schauen Sie sich doch an, was der Kronprinz angestoßen hat - für mich zeigt es, dass er um die Bedürfnisse im Land sehr genau Bescheid weiß. Wenn es uns gelänge, eine vernünftige Iran-Politik zu machen, dann liegt der Ausgleich zwischen Saudi-Arabien und dem Iran fast in der Luft. Und damit hätten wir endlich auch einen Zugang zur syrischen Krise.

So einfach soll das sein?

Es ist jedenfalls nicht unmöglich. Alles andere als das. Europa ist eine Macht, die geradezu prädestiniert ist, auf dieser Wellenlänge zu funken. Amerika ist out. Wir können eine Zukunft des Nahen Ostens nicht mehr mit Amerika denken. Wir müssen eine Zukunft der Region allerdings mit Russland denken. Das war einer der Fehler, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts gemacht wurden: Es entstand eine Lücke, gespeist aus dem Desinteresse und Egoismus des Westens. In die Lücke ist Putin gestoßen.

Welche Konsequenz ziehen Sie daraus?

Russland ist immer eine Nahost-Macht gewesen. Europa plus Russland - das muss die Partnerschaft für die Neugestaltung sein, wir können Russland nicht ausschalten. Zumal es ein gemeinsames Interesse gibt, den radikalen Islamismus und Terrorismus zu bekämpfen.

Und das soll die Voraussetzung sein, um Iran und Saudi-Arabien zu einer größeren Öffnung Richtung Europa zu bewegen?

Die Iraner haben eine lange Tradition, nach Europa zu gehen. Sie wollen nicht nach Russland oder jetzt nach China. Und Amerika haben sie abgehakt. Hier ist das Tor deshalb eigentlich sperrangelweit offen. Insbesondere was die iranische öffentliche Meinung anbetrifft.

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Und Saudi-Arabien?

Das Königreich müsste eigentlich erkennen (und der Kronprinz tut das), dass das Land in der größten Krise ist seit seiner Gründung 1932. Und es müsste erkennen, dass Amerika dieses Saudi-Arabien mehr instrumentalisiert, als den Interessen der neuen moderateren saudischen Führung wirklich zu dienen. Das bringt Europa in eine Situation, in der wir durchaus eine Verbindung zwischen Teheran und Riad herstellen könnten. Insbesondere mit Blick auf die Tatsache, dass diese Beziehungen viele Jahre, ja Jahrzehnte gut gewesen sind. Nach 1932 gab es lange Zeit sehr ähnliche Interessen, beispielsweise war man im Öl-Business eng miteinander verbunden.

Aber heute gibt es größte Spannungen zwischen den Schiiten im Iran und den Sunniten in Saudi-Arabien.

Das Stimmt, leider. Aber diese unselige konfessionalistische Spaltung, die in den letzten Jahren aufgetreten ist, ist eher ein Seitenschauplatz und nicht die Hauptlinie der Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Iran.

Das klingt angesichts der verheerenden Stellvertreterkonflikte in Syrien, im Irak, in Jemen gelinde gesagt sehr idealistisch.

Das mag sein. Aber wer die langen Linien betrachtet, kommt manchmal zu einem anderen Schluss als jene, die nur auf die akuten Konflikte schauen. Und seien diese Konflikte noch so schrecklich. Umso wichtiger ist es, sich die Möglichkeiten bewusst zu machen. Wir haben wichtige Karten in der Hand, die wir eigentlich ausspielen müssten.

Und Israels Warnungen, Drohungen, Ängste gegenüber Iran spielen keine Rolle?

Natürlich kommt an der Stelle Israel ins Spiel. Das Land fühlt sich vom Iran bedroht, jedenfalls wenn man das ernst nimmt, was Premierminister Benjamin Netanjahu sagt. Aber: Wenn Europa es hinbekommen würde, die Chancen zu nutzen, die sich im Iran und in Saudi-Arabien ergeben, dann nimmt man den Israelis die Furcht vor dem iranischen Popanz. Und dann könnte man auf Israel auch ganz anders einwirken, endlich den Konflikt mit den Palästinensern zu lösen. Netanjahu hätte nicht mehr den Vorwand zu sagen: Da sitzt der große Feind.

Klingt das nicht zu schön um wahr zu sein?

Vielleicht, weil wir es seit Jahrzehnten gewohnt sind, dass nichts geht. Vielleicht haben wir uns sogar ziemlich bequem darin eingerichtet, bestimmte Prämissen der Nahostkrise nicht mehr zu hinterfragen. Zum Beispiel, dass Iran auch, aber längst nicht nur aus Mullahs besteht; zum Beispiel, dass nichts ohne die USA geht - obwohl ausgerechnet die USA immer wieder Chancen versäumt und Kriege geführt haben; zum Beispiel, dass der israelisch-palästinensische Konflikt niemals durch europäische Impulse gelöst werden könnte. Dabei brechen derzeit viele Prämissen unter der Last Trump'scher Provokationsbereitschaft und Zerstörungslust in sich zusammen.

Wie wichtig ist bei all dem eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts?

Mitentscheidend. Es ist ein großes Problem, dass die derzeitige israelische Regierung seit Jahren so gut wie nichts für den Frieden tut und in der Westbank (Westjordanland; Anm. d. Red.) keine Grenzen akzeptiert, sondern seine Siedlungen immer weiter ausbaut. Man kann das hinnehmen und nichts tun. Aber angesichts dessen, was ja offensichtlich ist, darf man sich nicht wundern, dass sich die Palästinenser gedemütigt fühlen. Wie soll auf diesem Boden Frieden wachsen?

Was sollte Europa tun?

Wir Europäer müssen eine Israel-Politik entwickeln und vorleben, die unseren eigenen Wertvorstellungen entspricht. Dem widersprechen wir konstant.

Was meinen Sie damit?

Wir müssen Israel genauso wie allen anderen sagen, wie wichtig für uns gelebte Demokratie ist. Und wie Israel immer mehr in die Bredouille kommt, weil es sich zwischen dem Jüdisch-Sein und dem Demokratie-Sein nicht entscheiden will. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem in Israel und in den besetzten Gebieten mindestens genauso viele Palästinenser wie Israelis leben, aber nur ein kleiner Teil dieser Palästinenser demokratische Rechte und Mitsprache genießt. Es kann Israel und seine engsten Freunde nicht kalt lassen, wenn Israel seinen demokratischen Charakter verliert.

Wie sollte Europa darauf reagieren?

In Israel für eine redliche ehrliche, demokratische Politik werben, dabei noch engere Kooperationen anbieten und das Land zugleich offen fragen, ob es lieber mit Europa gehen oder auf Donald Trump setzen möchte. Dann allerdings würde es sich aus dem europäischen Orbit verabschieden.

Das klingt nicht nach mehr Sicherheit für Israel?

Doch. Und zwar dann, wenn es tatsächlich gelingt, die Chance zu nutzen, die sich meines Erachtens im Verhältnis zum Iran längst auftun. Wäre Europa mit Teheran erfolgreich, dann hätte Israel einen Gegner weniger und auch keine Ausflüchte mehr, ständig von der Bedrohung aus dem Iran zu sprechen und deshalb alle Friedensbemühungen einzustellen.

Schöne Worte. Aber mit schönen Worten alleine wird es Europa nicht richten.

Nein. Natürlich kostet Europa das etwas. Wenn wir eingangs gesagt haben, dass Europa eine Vision braucht und eine neue Form der Kooperation eingehen muss, dann müssen wir klipp und klar sagen, das bedarf erstens der Entschlossenheit, gemeinsam zu handeln. Und es bedarf zweitens der Instrumente zu handeln. Da ist das Militär ein wichtiger Teil, aber nicht alles. Wir müssen kenntlich machen, dass wir demokratische Anstrengungen fördern. Dass wir Staaten im Aufbau von sozialen Strukturen helfen. Dass wir uns nicht einmischen, aber Hilfen anbieten. Und dafür auch Geldmittel zur Verfügung stellen. Friedens- und wirtschaftsfördernd im besten Sinne.

Und welche Rolle spielt bei all dem die Türkei?

Eine wichtige, auch wenn Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Augenblick kein Partner beim Aufbau eines neuen offeneren Nahen Ostens sein kann. Er ist in eine Phase seiner Politik eingetreten, in der er nur noch autokratisch denkt, nur noch autokratisch denken kann, denn er hat so viel Widerstand gebrochen und gegen so viele Prinzipien verstoßen, einschließlich der Korruption seiner engsten Partei und Umgebung, dass er gar nicht mehr zurückkann.

Was bedeutet das für Europa?

Jetzt muss unsere Politik ganz klar sagen: Wir wollen eine demokratische Türkei. Und einer demokratischen Türkei würden wir den Weg nach Europa wieder eröffnen. Aber für den Augenblick steht der Präsident einer solchen Neuausrichtung im Weg. Das müssen wir klipp und klar sagen, um jenen knapp 50 Prozent, die nicht für ihn gestimmt haben, die Überzeugung zu vermitteln, dass wir da sind und uns nicht abwenden.

Liegt alles an Erdoğan? Oder hat Europa auch Fehler gemacht?

Es war ein schwerer Fehler, mit der Türkei Verhandlungen zum EU-Beitritt aufzunehmen und zugleich zu sagen, dass sie aber nicht in die EU kommen wird. Das hat in einem Mann wie Herrn Erdoğan, der ohnehin immer den Verdacht hat, dass im Westen und mit westlich orientierten Türken eine Verschwörung gegen ihn und seine Türkei im Gange sei, ungeheuer gefestigt. Es war wie eine Blanko-Bestätigung seiner Vorurteile.

Ist Erdoğan in seiner Denkweise und Gefühlswelt mit Putin vergleichbar?

Ja. Da ist vieles vergleichbar. Es ist ein Mann, der aus kleinen Verhältnissen kommt, aber eine Vision von seiner eigenen Gesellschaft hat, die sehr stark historisch eingetränkt ist. Der eine denkt in osmanischen Kategorien, der andere in den sowjetischen oder zaristischen Dimensionen. Und beiden ist eine hinreichende Skrupellosigkeit zu Eigen, um Zug um Zug das in Politik umzusetzen, was sie emotional empfinden. Beide sind sich sehr ähnlich, wenn es darum geht, über Prinzipien, über Demokratie einfach hinwegzusteigen, solange das der Verwirklichung ihrer Visionen dienen kann.

Das klingt, als könnten wir dagegen derzeit kaum etwas ausrichten.

Kurzfristig mögen Sie recht haben. Aber mittel- und langfristig sehe ich das anders. Vergessen Sie mir nicht die Bedeutung von Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit. Darum geht es. Und darum, nicht länger als ein Europa wahrgenommen zu werden, das bei seinen eigenen Prinzipien mit zweierlei Maß misst. Wir müssen das gleiche vertreten, egal, ob wir mit Iran, mit der Türkei oder mit Israel sprechen. Dann können wir auch überzeugen.

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