Als Recep Tayyip Erdoğan am 16. Juli, am Morgen nach dem gescheiterten Putsch, in Istanbul vor seine jubelnden Anhänger trat, hob er den rechten Arm über den Kopf und reckte vier Finger in die Höhe. Die Geste war kein verunglücktes Victory-Zeichen, sie war eine eindeutige politische Botschaft: Die Armee hat es nicht geschafft, den türkischen Präsidenten zu besiegen, einen Präsidenten, der seine Wurzeln im politischen Islam hat.
Die vier gereckten Finger, mit eingezogenem Daumen, sind das Erkennungszeichen der ägyptischen Muslimbrüder, seit die Armee in Ägypten 2013 mit großer Brutalität ein Protest-Camp der Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi räumte. Dabei starben in Kairo mehr als 600 Menschen auf dem Rabaa-Platz, dessen Name ähnlich wie das arabische Wort für die Zahl Vier klingt - daher die vier Finger. Erdoğan war einer der ersten Politiker, der die Geste aufgriff - nur drei Tage nach dem Gemetzel. Und danach immer wieder.
Der sunnitische Islam wird eindeutig bevorzugt
Denn Erdoğan und seine AKP fühlen sich den Muslimbrüdern politisch-ideologisch verbunden. Allerdings gibt es auch deutliche Unterschiede. Die Türkei hat nun eine fast 100-jährige Republikgeschichte. Der Verfassungsartikel, der sie zum "Laizismus", zur Trennung von Staat und "religiösen Gefühlen" verpflichtet, ist nicht veränderbar. Das hat Staatsgründer Kemal Atatürk so festgelegt. Das Programm der 1928 von dem ägyptischen Volksschullehrer Hassan al-Banna gegründeten Muslimbrüder strebt dagegen eine Staatsführung an in Übereinstimmung mit der Scharia, dem islamischen Recht.
Als der türkische Parlamentspräsident Ismail Kahraman im April meinte, die Türkei brauche als "muslimisches Land" auch eine "religiöse Verfassung", wurde er von Erdoğan rasch zurechtgewiesen. "Meine Position dazu ist bekannt (...) der Staat sollte zu allen Religionen dieselbe Distanz wahren (...) das ist Laizismus." In Wirklichkeit kennt der türkische Staat solche Äquidistanz nicht. Der sunnitische Islam, dem sich die meisten Türken zurechnen, wird eindeutig bevorzugt, über eine Religionsbehörde gefördert und kontrolliert zugleich.
Viele Muslimbrüder aus Ägypten flüchteten vor der Militärregierung in die Türkei
Ideologisch-religiöse Nähe ist das Eine, praktische Politik etwas anderes. Erdoğan hatte einst gehofft, sein Land könnte nach den arabischen Revolutionen zum Patenstaat für aufstrebende muslimische Demokratien werden. Es kam anders. In Ägypten regiert ein Ex-General - und die Türkei beherbergt Dutzende exilierte Führer der Muslimbrüder, die in Kairo als "Terroristen" gelten. Sie können von türkischem Boden aus Propaganda für einen neuen Umsturz betreiben. Ist die Türkei damit, wie es in der Einschätzung des Bundesinnenministeriums heißt, eine "zentrale Aktionsplattform" für islamistische Gruppierungen im Nahen und Mittleren Osten?
Die ägyptischen Muslimbrüder streben nicht nach der islamistischen Weltherrschaft, sie sind an Kairo interessiert. Die palästinensische Hamas, die laut Innenministerium und BND auch in Ankara wohlgelitten ist, entstand einst als Ableger der Muslimbrüder, auch ihr Ziel ist nicht der globale Dschihad. Die Hamas gilt in Israel und der Europäischen Union allerdings als Terrororganisation, sie richtet ihre Waffen auch gegen die säkulare palästinensische Konkurrenz.