Münchner Neueste Nachrichten vom 15. Juli 1914:Greiser Kaiser auf der Pirsch

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Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 15. Juli 1914 (Foto: Oliver Das Gupta)

Das SZ-Vorgängerblatt berichtet von einem Streit um die Olympischen Spiele 1916 in Berlin, Aufrüstung in Frankreich - und listet die "Untaten" der Sufragetten auf.

Von Barbara Galaktionow

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Mitte Juli 1914, Hochsommer, es ist immer noch warm und sonnig in Deutschland und Österreich. "Kaiserwetter", wie man damals sagte - wobei unklar ist, welcher Kaiser sich das schöne Wetter auf die Fahnen schreiben durfte: der Deutsche Wilhelm II. oder der Österreicher Franz Joseph I. Doch vereinzelt ziehen Wolken auf.

Von einem Nervenkrieg ist in den Münchner Neuesten Nachrichten die Rede. Von einer vor sich hin schwelenden Auseinandersetzung, bei der die "Bequemlichkeit der anderen" mehr störe als ihre "Feindschaft". Geht es um die internationalen Beziehungen, die Folgen der Thronfolger-Ermordung in Sarajewo Ende Juni? Keineswegs.

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Es geht um die gegenseitige Abneigung verschiedener Verkehrsteilnehmer ( ein heute ja auch noch akutes Thema). Das Problem damals: Mit welchen Unbilden sich Fahrer des ja noch neuen Automobils durch Pferdefuhrwerke und Fußgänger konfrontiert sehen. "Eine hartnäckige, gleichmütige Trägheit, die sich unserem Tempo nicht anpassen kann. Ein jeder scheint überzeugt, dass die Straße ihm allein gehört, und will sein Recht nicht aufgeben. Wir haben fortwährend zähe Widerstände fortzututen und fortzuschimpfen. Was uns begegnet, übt passive Resistenz. Nie wird die alte Bäuerin anders als in der Mitte der Straße gehen", schimpft der Autor des Artikels.

Mit Vorbehalten und Verzögerungen hat auch der französische Präsident Raymond Poincaré zu kämpfen. Zwar hat der französische Senat trotz der erregten Debatten vom Vortag das Rüstungsbudget letztlich noch durchgewinkt, doch hat sich wegen der Dauer der Diskussionen die geplante Abreise nach Russland "um einige Stunden verschoben".

Genau beäugte Reise des französischen Präsidenten

Keine große Angelegenheit, könnte man meinen. Interessant ist die kleine Planänderung jedoch im Hinblick darauf, dass die Führungen in Wien und Berlin die Reise des französischen Präsidenten genau beäugten - und ihre eigene Zeitplanung danach ausrichteten. Das zu diesem Zeitpunkt noch unter Verschluss gehaltene, scharfe Ultimatum an Serbien sollte nämlich keinesfalls zu einem Zeitpunkt an Belgrad überstellt werden, an dem sich Poincaré bei seinen Verbündeten in St. Petersburg aufhielt. Frankreich und Russland sollte so eine schnelle gemeinsame Reaktion auf das Ultimatum verwehrt werden.

Um diese und andere Feinabstimmungen ging es Mitte Juli in Wien. Doch davon erfuhr die Öffentlichkeit noch nichts. Die Münchner Neuesten Nachrichten berichten am 15. Juli 1914 lediglich, dass der österreichische Außenminister Leopold Graf Berchtold, der ungarische Ministerpräsident István Graf Tisza und andere in Wien über die Beziehung Österreich-Ungarns zu Serbien beraten würden.

Kaiser Franz Joseph I. nach einer Jagd. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Nichts scheint auf tiefgreifende internationale Spannungen, gar auf Kriegsvorbereitungen hinzudeuten. Im Gegenteil. Nachdem bereits fast die gesamte deutsche Staatsspitze schon seit Tagen im Urlaub zu sein scheint, inklusive Kaiser Wilhelm, haben sich nun auch Österreich-Ungarns Kriegsminister Alexander von Krobatin sowie die beiden Landesverteidigungsminister in die Sommerfrische begeben. "Dies beweist jedenfalls, dass die Monarchie die Absicht hat, vorläufig bloß diplomatische Mittel gegenüber Serbien in Anwendung zu bringen", schlussfolgern die Münchner Neuesten Nachrichten - und reagieren damit genau so, wie es sich die Spitzen in Wien und Berlin erhofft hatten.

Auch der 83-jährige österreichische Kaiser geht weltpolitisch betrachtet harmlosen Vergnügungen nach. Franz Joseph I. habe am Vortag in Bad Ischl seinen ersten Jagdausflug während des diesjährigen Sommeraufenthaltes unternommen. "Er fuhr um halb 5 Uhr nachmittag im offenen Wagen ins Jagdrevier", meldet die Zeitung.

Von Kriegstreiberei auf Seiten der Mittelmächte ist also nichts zu lesen. Dafür findet sich ein Hinweis auf das Argument, mit dem sich deutsche und österreichische Armeeangehörige im Vorfeld des Ersten Weltkriegs immer wieder für einen baldigen Kriegsbeginn stark machten: die Behauptung einer enormen Aufrüstung der Gegenseite.

Vor einiger Zeit, so schreibt die Zeitung, sei ein Aufsatz eines Militärschriftstellers erschienen, der in militärischen und politischen Kreisen Aufsehen erregt habe. Darin sei im Wesentlichen folgende These vertreten worden: Der Hass gegen Deutschland beflügele die Kriegsvorbereitungen in Frankreich und Russland seit einiger Zeit so sehr, dass sie von "tatsächlicher Kriegsbereitschaft" kaum mehr zu unterscheiden seien.

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Bereits im Frühjahr 1915 werde diese ein solches Ausmaß annehmen, "daß man jeden Tag des Einmarsches so gewaltiger Heere gewärtig sein muß, wie sie auf Europas, wie sie auf der Erde Boden noch niemals gesehen worden" seien. Vermerkt wird noch, dass der deutsche Kronprinz Wilhelm die Broschüre mit Interesse gelesen und dem Autor ein Zustimmungstelegramm gesendet habe.

All diese, aus heutiger Sicht besonders brisanten Nachrichten finden sich indes nicht auf den Titelseiten der zwei Zeitungsausgaben des Tages. Denn da geht es um einen Landesrat, der sich enttäuscht darüber zeigt, dass der Reichstag über die Interessen der Kolonien hinweggeht. Um eine Ersatzwahl nach dem Tod eines Abgeordneten bei Königsberg oder um die Wirtschaftslage in Frankreich und Deutschland im Vergleich (Ergebnis kurz gefasst: in Frankreich bedenklich, in Deutschland wunderbar).

Berlins Olympiatraum

Die bewusst verschleierten Manöver der österreichischen und deutschen Führung fanden sich hingegen jeweils auf den hinteren Seiten des Blattes, quasi gleichgestellt mit allerlei anderen bunten oder kuriose Meldungen: So ist ein Strafgefangener im Festungsgefängnis Thorgau "an einem Priemchen erstickt".

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