Münchner Neueste Nachrichten vom 14. Juli 1914:Paranoia in Belgrad

Antiösterreichische Kundgebung vor dem Nationaltheater in Belgrad, 1914

Antiösterreichische Kundgebung vor dem Nationaltheater in Belgrad während der "Julikrise" 1914.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

In Serbien fürchten Österreicher um ihr Leben, aus Russland kommt eine Falschmeldung über den "Wundermann" Rasputin und Frankreich fühlt sich schlecht gerüstet für einen Krieg gegen Deutschland. Was am 14. Juli 1914 in der Zeitung steht.

Von Oliver Das Gupta

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Die Angst geht um unter den Österreichern in Belgrad. Die Angst vor den Serben, die Rache nehmen wollen für einen toten Diplomaten aus Russland. Der Botschafter des Zaren in Serbien war wenige Tage zuvor in der österreichischen Gesandtschaft plötzlich tot vom Sofa gefallen (hier lesen Sie, was die Zeitung am 12.7.1914 darüber berichtete). Es handelt sich wohl um einen Herzinfarkt, doch viele Serben finden den Fall höchst verdächtig, aus einem naheliegenden Grund: Der Russe galt als enger Freund der Serben - und Gegner Österreich-Ungarns.

Allerlei Gerüchte wabern durch Belgrad: Etwas Geheimnisvolles hat sich abgespielt! Kein natürlicher Tod! Stimmt es, dass der Russe ein "sehr wichtiges Dokument" in der Tasche hatte?

Es passiert - nichts

Ausführlich beschreiben die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren die Paranoia, die sich daraufhin in der serbischen Hauptstadt breit macht. Die dort ansässigen Österreicher glauben, von den Serben bedroht zu werden, und flüchten zu Dutzenden in die Botschaft.

Doch auch hier sind sie angeblich nicht sicher. Anschlagspläne soll es auf die österreichisch-ungarische Vertretung geben. Zwei russische Anarchisten wollten aus Rache den Botschafter Österreichs töten. Eine andere Meldung besagt, dass mit Bomben ausgerüstete Männer unterwegs sind. Die serbische Polizei sichert die Botschaft. Es passiert - nichts.

"Blinde Panik" sei das, schimpft die Belgrader Stadtpräfektur. Auch die Münchner Neuesten Nachrichten schreiben davon, dass die Gerüchte übertrieben seien und letztendlich nur dazu dienten, den "Hass gegen Österreich-Ungarn" zu schüren. "Gehetzt wird weiter" gegen die Doppelmonarchie, heißt es in einem Text, der davor warnt, dass die "antiösterreichischen Treibereien" für Serbien "üble Folgen" haben könnten. Tatsächlich kommt es in Belgrad zu antiösterreichischen Kundgebungen - wie Tage zuvor zu deutschtümelden Demonstrationen vor der serbischen Botschaft in Wien.

Wie in den vorherigen Ausgaben schon knapp angekündigt tritt an jenem 14. Juli in Wien der Ministerrat zusammen. Die Herrenrunde feilt an dem Text eines scharfen Ultimatums an Belgrad. Serbiens Führung soll nach dem Mord an Thronfolger Franz Ferdinand weitestgehende Bedingungen erfüllen. Unter anderem wird gefordert, dass österreichische Beamte an der "Unterdrückung" von Umtrieben in Serbien beteiligt werden, die sich gegen Österreich richteten.

Der austriakischen Führung ist sich bewusst, dass sie Dinge verlangt, die ein souveräner Staat schwerlich akzeptieren würde. Die Note sei so gehalten, dass "mit der Wahrscheinlichkeit einer kriegerischen Auseinandersetzung gerechnet werden muss", erklärt Österreichs Außenminister Leopold Graf Berchtold in diesem Tag, einem später publizierten Protokoll zufolge. Doch davon alledem steht vor 100 Jahren nichts in der Zeitung.

Frankreich fürchtet deutsche Waffen

Münchner Neueste Nachrichten vom 14. Juli 1914: Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 14. Juli 1914.

Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 14. Juli 1914.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Dafür berichtet der Alpinteil der SZ-Vorgängerin von mehreren Bergwanderern, die im Allgäu, am Wilden Kaiser und am Großvenediger den Tod fanden, letztere übrigens in einem Schneesturm. Der Sportteil berichtet ausführlich von der "Münchner Woche" der Segler auf dem Starnberger See und einem Skirennen in Arosa, das im Hochsommer auf fast 3000 Meter Höhe startete.

Fußball wird damals übrigens auch schon gespielt, das Gekicke ist damals in Deutschland allerdings nicht massentauglich. Die erste WM wird erst 16 Jahre später stattfinden.

Expansionsdrang, Rachegelüste, Angst

Breit wird über die Ermordung des russischen "Wundermannes" und "Abenteurers" Rasputin berichtet. Der Vertraute der Zarin war von einer Frau in den Unterleib gestochen worden und danach gestorben. Das Problem bei der Meldung: Sie stimmt nicht. Rasputin ist schwer verletzt, aber überlebt. Vom Krankenbett aus schickt er wirr formulierte Telegramme an Zar Nikolaus II., um ihn vor einem großen Krieg zu warnen.

Der Zar ist zunehmend genervt, der Rückhalt des Herrscherhauses schwindet in der Folge für Rasputin. Zwei Jahre später wird er Opfer eines Mordkomplotts. Drei Monate später fegt die Revolution den Zaren vom Thron, der zusammen mit seiner Familie später erschossen wird. Doch das ist 1914 noch alles undenkbar, die Möglichkeit eines großen Krieges hingegen ist auch in jenen Tagen Thema.

Auf der Titelseite der Morgenausgabe schreibt ein ungenannter Mitarbeiter aus London von der dort stattfindenden Allianz-Debatte. Ist das Bündnis zwischen Frankreich und Großbritannien im Kriegsfall stabil? Könnte nicht eine "Triple Entente" inklusive Russland den Frieden dauerhaft sichern? Da gehen offensichtlich die Meinungen auseinander. Wenige Wochen später wird sich zeigen: Die drei Großmächte ziehen gemeinsam in den Krieg, zusammengeschweißt aus einem Mix aus Expansionsdrang, Rachegelüsten und Angst.

Doch kriegsbereit fühlt man sich zumindest in Paris nicht, wie die Leser in derselben Ausgabe erfahren. "Die militärischen Bedürfnisse Frankreichs" sind demnach groß und unbefriedigt, heißt es. Im Senat wird Klage laut: Es gebe zu wenig Offiziere. Es mangele an Geschützmunition, der Zustand der Forts wie Verdun sei seit 1875 nicht verbessert worden. Die Feldartillerie komme gegenüber der deutschen immer mehr ins Hintertreffen, ebenso die Haubitzen. "Deutschland verfüge über erstklassiges Material". Man fürchtet offenkundig, einem Angriff des Reichs nicht gewachsen zu sein.

Der deutsche Angriff auf Frankreich ist damals tatsächlich längst geplant (mehr dazu hier), doch Verdun sollten die Deutschen nicht nehmen können. Der Ort wurde zur "Blutpumpe" des Ersten Weltkrieges.

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