EU und Migration:Flüchtlinge in Afrika: Euros oder Exodus

Lesezeit: 4 Min.

  • Immer mehr afrikanische Staaten verlangen Geld von Europa, um Flüchtlinge von der Weiterreise abzuhalten.
  • Die Forderungen sind einerseits nachvollziehbar. Andererseits werden sich nach jedem milliardenschweren Abkommen weitere Länder melden.
  • Finanziell könnten die Drohgebärden die EU an ihre Grenzen bringen. Außerdem stellt die Kooperation mit autoritären Staaten die Wertegemeinschaft auf die Probe.

Von Oliver Meiler, Isabel Pfaff und Tobias Zick

Die drittgrößte Stadt Kenias versteckt sich in der Halbwüste, in einer weiten Landschaft aus Sand, Staub und dornigen Akazien. Knapp 80 Kilometer vor der Grenze zu Somalia, die de facto nur ein mit dem Lineal gezogener Gedanke ist, tauchen sie plötzlich auf: Wassertürme, weiße und ehemals weiße Zeltdächer, aus Zweigen gewundene Zäune.

Fährt man in die immer dichter werdenden Siedlungen hinein, trifft man auf all das, was auf den ersten Blick zu einer durchschnittlichen afrikanischen Stadt dazugehört: Marktstände, Handygeschäfte, Werkstätten - und Unterkünfte, die mit provisorischen Notunterkünften nichts mehr zu tun haben.

Dabei ist Dadaab nichts als ein gigantisches Flüchtlingslager, offiziell eine Ansammlung von Camps mit Namen wie Hagadera, Dagahaley, Ifo 1 und Ifo 2; versorgt von den Vereinten Nationen und diversen Hilfsorganisationen. Fast 350 000 registrierte Flüchtlinge leben hier, fast alle kommen aus Somalia. Nach Syrien und Afghanistan stammen die meisten Flüchtlinge weltweit aus dieser Staatsruine am Horn von Afrika.

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Ein Student stirbt, mehr als 100 werden verletzt: Nach einer Explosion in einer Universität in Nairobi ist Chaos ausgebrochen. Dabei handelte es sich nicht um eine Attacke von Islamisten. Die Regierung will indes Hunderttausende Menschen aus dem Flüchtlingslager Dadaab nach Somalia umsiedeln.

Kenias Regierung überlegt, das Camp zu schließen

Anfang April kündigte Kenias Regierung an, Dadaab und ein weiteres Lager, das Camp in Kakuma mit 180 000 Menschen, dichtmachen zu wollen. Mehr als eine halbe Million Menschen wären auf einen Schlag heimatlos, eine neue Fluchtwelle wäre wohl unausweichlich.

"Aus Sicherheitsgründen", wie es offiziell hieß, sollten die Lager schließen. Der mörderische Angriff der Islamistenmiliz al-Shabaab auf das Einkaufszentrum Westgate in Nairobi im September 2013 sei "von Dadaab aus geplant und ausgeführt worden", behauptete das kenianische Innenministerium. Doch lieferte es rasch andere Begründungen nach.

Auch Europa mache die Grenzen dicht, und US-Präsidentschaftsbewerber Donald Trump wolle einen Grenzwall bauen, twitterte das Ministerium. "In Europa weisen reiche, wohlhabende, demokratische Länder Flüchtlinge aus Syrien ab, einem der schlimmsten Kriegsgebiete seit dem Zweiten Weltkrieg", sagte Innenminister Joseph Nkaissery.

Kenias Vorgehen sei "verantwortungslos", rügten Hilfsorganisationen. Die UN appellierten an die Regierung, weiter Flüchtlinge aufzunehmen. Hinter vorgehaltener Hand ist ein weiteres Motiv für die Drohung zu hören: "Es geht, wie so oft, auch um Geld", sagt der Mitarbeiter einer humanitären Organisation, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. "Die Regierung in Nairobi hat gesehen, wie viel die Türkei jetzt bekommt. Warum also nicht auch Kenia?"

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Vor Kurzem wagte das westafrikanische Niger einen ähnlichen Vorstoß. Zehntausende afrikanische Flüchtlinge ziehen jährlich durch das Land, dort beginnt ihre gefährliche Tour durch die Wüste zum Mittelmeer.

"Niger benötigt eine Milliarde Euro, um gegen die illegale Migration zu kämpfen", ließ der nigrische Außenminister Ibrahim Yacoubou Anfang Mai seine Kollegen aus Frankreich und Deutschland, Jean-Marc Ayrault und Frank-Walter Steinmeier, wissen.

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Flüchtlinge sind also zur Verhandlungsmasse geworden zwischen den Ländern Afrikas und Europa. Je nach Perspektive könnte man auch fragen, ob sie nicht zum Erpressungsinstrument geworden sind, um der reichen EU ein paar Milliarden abzunehmen.

Je nach Perspektive, wohlgemerkt. Denn die Forderungen aus Kenia und Niger sind durchaus nachvollziehbar. Beide Staaten spielen eine wichtige Rolle bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms durch den Kontinent: Niger als Tor zur Sahara und damit zum Mittelmeer, Kenia als eines der bedeutendsten Aufnahmeländer weltweit.

Milliardenschwere Deals locken auch andere an

Nur: Wenn die EU nach ihrem umstrittenen Deal mit der Türkei auch mit diesen Staaten milliardenschwere Abkommen schließt, werden sich andere melden. Es gibt viele Länder, die ohne großes Tamtam Flüchtlinge aufgenommen haben und damit die EU entlasten.

Nicht nur in Afrika: Seit Ende der 1970er-jahre fliehen Menschen aus Afghanistan. Pakistan nimmt sie auf, fast 1,5 Millionen Flüchtlinge leben dort. Würde Pakistan diesen Menschen die Einreise verweigern, bekäme Europa das zu spüren. Schon jetzt machen die Afghanen mehr als ein Fünftel der Flüchtlinge aus, die in Europa landen.

Oder Äthiopien. Das Land am Horn von Afrika hat selbst mit Armut zu kämpfen, derzeit leidet die Bevölkerung unter der schlimmsten Dürre seit 50 Jahren. Und doch belegt Äthiopien Platz 5 unter den wichtigsten Aufnahmestaaten der Welt, kein Land in Afrika beherbergt mehr Flüchtlinge aus einem anderen Staat. In Lagerkomplexen leben mehr als eine halbe Million Flüchtlinge, die meisten kommen aus dem Südsudan, wo seit 2013 einer der schlimmsten Bürgerkriege der Gegenwart tobt - und aus Somalia.

Sollte Äthiopien wie sein Nachbar Kenia demnächst beschließen, seine Lager dichtzumachen, würden sehr viel mehr Somalier die Reise übers Mittelmeer antreten. Auch Uganda, Tansania und Tschad schultern große Teile der Flüchtlingslast in Afrika. Die Zahlen in Europa sähen anders aus, würden diese oft bettelarmen Staaten ihre Grenzen so rigoros schließen wie die EU.

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Werden Flüchtlinge zum neuen Druckmittel zwischen Arm und Reich? Das schiere Ausmaß der Migrationsströme macht das zumindest möglich. Und: Es gibt Beispiele aus der Vergangenheit, die zeigen, dass diese Taktik aufgehen kann. Schon Libyens früherer Diktator Muammar al-Gaddafi setzte Migranten als Druckmittel ein und erpresste Italien, die ehemalige Kolonialmacht.

Nach der Jahrtausendwende gab Gaddafi oft vor, er sitze gewissermaßen am Wasserhahn: Er könne also den Flüchtlingsstrom beliebig regeln. Zehntausende, ließ er ausrichten, würden an den libyschen Küsten nur darauf warten, dass er sie nach Lampedusa und Sizilien aufbrechen lasse. Ob das stimmte, war nie ganz klar. Doch die Italiener waren besorgt.

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Damals regierte in Rom Silvio Berlusconi. Er besuchte Gaddafi in Tripolis, als Libyen dem Westen noch als Schurkenstaat galt, und bat um enge Kooperation bei der Migrationsfrage. Gaddafi verknüpfte seine Bereitschaft mit der Forderung nach Wiedergutmachung für das koloniale Unrecht: Italien sollte eine Autobahn bauen, 2000 Kilometer lang, für fünf Milliarden Euro. Rom willigte ein. Doch dann stürzte Gaddafi, das Land geriet aus den Fugen, und die große Geste blieb eine papierene.

Finanziell könnten die Drohgebärden die EU an ihre Grenzen bringen

Nach Gaddafis Tod 2011 änderte sich viel in Libyen, nicht aber die Einstellung zu den Flüchtlingen. 2014 sprach es der Übergangsinnenminister Salah Mazek offen aus: "Was die illegale Immigration betrifft, warne ich die Welt und besonders die EU - wenn sie die Verantwortung nicht mit uns gemeinsam schultern, wird Libyen eine Haltung einnehmen, die die rasche Durchreise der Flut von Menschen durch Libyen erleichtert."

Finanziell könnten die Drohgebärden aus Afrika die EU an ihre Grenzen bringen. Und nicht nur das. Libyen, die Türkei, Kenia - alle sind Staaten mit zweifelhaftem demokratischen Ruf. Die Kooperation mit ihnen stellt den Anspruch Europas als Wertegemeinschaft auf eine harte Probe. Das gilt umso mehr, als die EU schon von sich aus auf diktatorische Regimes zugeht und Geld gibt: Im sogenannten Khartoum-Prozess kooperiert Brüssel mit Ägypten, Eritrea, Äthiopien, Südsudan und Sudan, um Flüchtlinge, die Richtung Mittelmeer fliehen, zu stoppen.

Nach Recherchen des ARD-Magazins "Monitor" zielt die Zusammenarbeit nicht nur auf Bildung und Wirtschaftsförderung - also auf die viel zitierten verbesserten Lebensbedingungen -, sondern auch auf Polizeiarbeit und Grenzschutz. Bei Diktaturen wie Eritrea und Sudan ein ziemlich fragwürdiges Unterfangen.

In Kenia immerhin ruderten die Behörden nach den internationalen Protesten zurück, ein bisschen jedenfalls. Das Lager in Kakuma könne man unter Umständen offen lassen, meinte das Innenministerium. Das Spiel geht weiter.

© SZ vom 21.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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