Migranten in Berlin:Die Stadt des Thilo Sarrazin

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Auch wenn Thilo Sarrazins Kritik an der Berliner Versorgungsmentalität teils berechtigt ist: Die Aussagen sind die eines Provinzpolitikers - und die Probleme sozialer, nicht ethnischer Natur.

C. von Bullion

Der Mann von der Bundesbank hat sich Gedanken gemacht über die Gesellschaft, in der er lebt.

Berlin: Über Jahrzehnte hat sich hier eine Versorgungsmentalität festgesetzt. (Foto: Archivfoto: AP)

Das hat ihn fast den Job gekostet. Thilo Sarrazin, lange Finanzsenator von Berlin, seit Mai im Vorstand der Bundesbank, hat in einem Interview eine soziologische Analyse über das abgegeben, was man im Englischen brain drain nennt, also den Abfluss von Gehirnmasse aus einem Gemeinwesen.

Geistlos wirkende Repräsentanten

Gemeint ist die Stadt Berlin, der seit dem Zweiten Weltkrieg jede Menge Intelligenz abhandengekommen ist: erst durch die Ermordung ihrer jüdischen Bürger, dann durch den Mauerbau, der erfolgreiche Unternehmer und gebildete Bürgersleute aus dem Westteil vertrieben hat, während sich im Ostteil eine sozialistische Gesellschaft sammelte, die auf die Anforderungen der modernen Leistungsgesellschaft nicht vorbereitet war.

Über Jahrzehnte hinweg hat sich in beiden Teilen der Stadt eine Versorgungsmentalität festgesetzt wie Schlacke, das hat Sarrazin zu Recht moniert. Kreativität findet man in Berlin zwar zuhauf, aber sie blüht abseits staatlicher Sphären.

Viele Repräsentanten des Landes dagegen wirken eher geistlos, in Verwaltungen und in manchem öffentlichen Sender geht es umständlich zu wie in Byzanz; in vielen Schulen steht die Luft, und in keiner deutschen Großstadt sind die Milieus derer so dicht, denen der Staat den Kühlschrank füllt, ohne wirtschaftlichen Nutzen aus ihnen ziehen zu können.

Das gilt in hohem Maße auch für Migranten, die Sarrazin mit Begriffen wie "Türken", "Araberfrau" oder "Kopftuchmädchen" belegt.

Anprangern reicht nicht

Er hat sich da nicht nur im Ton vergriffen, die abschätzige Diktion verrät auch ein Maß an Aggression, das vielleicht einem Provinzpolitiker zu Gesicht steht, nicht aber dem weltläufigen Großstadtbürger, der Sarrazin sein will.

Keine Frage: Berlin ist vermüllt, verschlampt, oft ungehobelt, und wer mit offenen Augen durch die Stadt geht, sieht Folgendes: Einwanderersöhne, die in der U-Bahn dealen; dreijährige Mädchen, die schon Kopftuch tragen; Straßenzüge, die von libanesischen Großfamilien als ihr Revier betrachtet werden.

Es gibt keinen Grund, aus Rücksicht auf die Völkerfreundschaft zu ignorieren, dass muslimische Frauen oft geschurigelt und ihre Kinder öfter verdroschen werden als Mitschüler aus anderen Elternhäusern.

Es reicht aber nicht, diese Umstände anzuprangern und die Rückständigkeit bildungsferner Einwandererfamilien verächtlich zu machen. In wenigen Jahren wird in Berlins Innenstadtbezirken jedes zweite Kind aus einer nicht-deutschen Familie stammen - aber eben kein "Türke" sein und keine "Araberfrau", sondern deutscher Staatsbürger. Diese Menschen werden, kurz gesagt, nicht mehr verschwinden, auch wenn sich mancher das wünschen mag.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Problemmilieus aufgebrochen werden können.

Sarrazins Sprüche
:"Kalt duschen ist viel gesünder"

Thilo Sarrazin hat ein Problem mit Zuwanderern: Sie seien weniger gebildet und würden sich überdurchschnittlich vermehren. Seine umstrittensten Aussagen in Bildern.

Höchste Zeit also, sich nicht nur in Berlin, sondern auch im Rest des Landes an das zu gewöhnen, was in den europäischen Nachbarstaaten längst selbstverständlich ist: dass Zugehörigkeit nicht durch Haarfarbe, Blut oder Rasse definiert wird und auch nicht durch Religion, sondern durch Sozialisation - also davon, in welcher Geisteswelt jemand groß wird.

Die Probleme wachsender städtischer Unterschichten sind im Kern nicht ethnischer, sondern sozialer Natur. Sie sind bedingt durch Armut und Unwissen, manchmal durch Dummheit, nicht aber durch Genetik.

Ein Vater schlägt seinen Sohn nicht, weil er Kurde ist, sondern weil er keine besseren Erziehungsmethoden kennt. Ein Schüler bricht die Schule nicht ab, weil seine Eltern Palästinenser sind, sondern weil es ihnen an Bildung und Wertschätzung dafür fehlt.

Geprügelt, gefaulenzt und vernachlässigt wird im Übrigen auch viel zu viel in den von Deutschsprechern geprägten ärmlichen Hochhäusern des Ostens.

Wer solche Milieus aufbrechen will, muss Kinder früher herausholen aus den Atollen der Unwissenheit.

Wo Eltern ihren Kindern wenig mehr zu bieten haben als Nahrung und ein Bett, da muss der Staat mehr Verantwortung für ihre Erziehung übernehmen. Kinder müssen solchen Familien buchstäblich entzogen werden, und zwar nicht nur für ein paar Stunden am Tag, sondern bis zum Nachmittag und in einem klug organisierten, von Lehrern geführten Ganztagsschulbetrieb.

Abschied vom unzeitgemäßen Familienbild

Wenn es endlich genug solcher Ganztagsschulen gibt und auch Problemfamilien davon profitieren sollen, kann ihr Besuch nicht freiwillig bleiben; auch nicht am Chiemsee und in den feineren Regionen Deutschlands, wo viele Frauen sich noch einem Mutterbild verpflichtet fühlen, das dem der "Araberfrauen" nicht unähnlich ist: zu Hause am Kochtopf zu stehen, wenn die lieben Kleinen heimkommen.

Der Glaube, die mütterliche Schule sei doch immer noch die beste, ist überall ein Irrglaube.

Nach dem Abschied von der Deutschtümelei muss der Abschied von einem unzeitgemäßen Familienbild kommen.

Wer nicht will, dass wenig Gebildete ständig neue Kopftuchmädchen produzieren, wie Sarrazin das nennt, während die Leistungsträger der Gesellschaft aussterben, der muss auch dafür sorgen, dass diejenigen sich stärker vermehren, denen man offenbar mehr Grips zutraut: die akademischen Frauen, die arbeitenden Mütter.

Egal, woher ihre Großeltern stammen.

© SZ vom 07.10.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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