Frankreich:"Die Fünfte Republik hat nicht ausgedient"

Lesezeit: 4 min

Weder Macron noch Le Pen - das fordert diese Frau in Paris während einer Demonstration gegen Rassismus und Faschismus. (Foto: Thomas Coex/AFP)

Haben Staatspräsidenten in Frankreich zu viel Macht - und das Parlament sowie die Bürger zu wenig? Verfassungsrechtler Jean-Philippe Derosier über die Idee einer grundlegenden Reform des politischen Systems.

Interview von Thomas Kirchner und Nadia Pantel

Auch bei der laufenden Präsidentschaftswahl kommt sie wieder auf: die Diskussion über das politische System in Frankreich. Es gibt viel Unzufriedenheit über die "präsidentielle Monarchie", die starke Stellung des Präsidenten. Der Verfassungsrechtler Jean-Philippe Derosier blickt aber skeptisch auf die Überlegungen zu einer "Sechsten Republik".

SZ: Frankreichs Präsidenten werden immer unbeliebter, zugleich hängen die meisten Franzosen laut Umfragen sehr am Präsidialsystem. Wie lässt sich dieses Paradox erklären?

Jean-Philippe Derosier: Bis zur zweiten Amtszeit Jacques Chiracs, bis 2002, gab es bei den Präsidentschaftswahlen deutlich weniger Kandidaten. Danach begann die Zersplitterung der Parteienlandschaft. Es gibt also nicht mehr die linken Sozialisten auf der einen Seite und die konservativen Gaullisten auf der anderen. Früher holten die Kandidaten, die in die Stichwahl kamen, in der ersten Runde zusammen 70 bis 80 Prozent der Stimmen. Diesmal kamen Emmanuel Macron und Marine Le Pen in der ersten Runde gemeinsam nur auf 50 Prozent. Hinzu kommt der Mythos des Präsidenten, der angeblich alles allein regeln kann. Dabei war das nie der Fall.

Das müssen Sie erklären.

Der französische Präsident hat keine repräsentative Rolle wie der deutsche Präsident, er ist wirklich der Staatschef. Aber er braucht die Mehrheit in der Nationalversammlung, um regieren zu können. Und er hat längst nicht mehr so viel Macht wie noch de Gaulle. Wir haben einen viel mächtigeren Verfassungsrat als früher, eine präsentere EU, mehr Dezentralisierung, einflussreiche private Medien. Stellen wir uns die Krise der Gilets jaunes unter de Gaulle vor: Der hätte damals seinen Innenminister angerufen und ihm gesagt, dass die Leute vom Kreisverkehr runtersollen, und man hätte nie wieder darüber gesprochen. Die Medien zeichnen heute das Bild eines übermächtigen Präsidenten, der eigentlich nur ein übermediatisierter Präsident ist.

Alle Nachrichten im Überblick
:SZ am Morgen & Abend Newsletter

Alle Meldungen zur aktuellen Situation in der Ukraine und weltweit - im SZ am Morgen und SZ am Abend. Unser Nachrichten-Newsletter bringt Sie zweimal täglich auf den neuesten Stand. Hier kostenlos anmelden.

Aber der Präsident kann die Nationalversammlung auflösen, den Premierminister bestimmen und ist der Armeechef. Wie kam es dazu?

Das ist der Wille des Gründungsvaters der Fünften Republik. De Gaulle wollte 1958 das "Regime der Parteien" beenden, weil in der Vierten Republik die Parteien die Regierung daran hinderten zu regieren. Er wollte eine Exekutive, die nicht von den Parteien abhängt. De Gaulle selbst hatte eine historische Legitimität, weil er Frankreich in der Zeit des Nationalsozialismus gerettet hatte. Mit der direkten Volkswahl des Präsidenten wollte er die Legitimität seiner Nachfolger absichern.

Diese Wahl bringt eher eine Karikatur des Gaullismus hervor. Éric Zemmour führte sich als "Retter Frankreichs" auf, die früher großen Parteien haben solche Imageprobleme, dass die Kandidaten lieber auf Bewegungen setzen, die direkt auf sie zugeschnitten sind. Wohin führt das?

Ich glaube nicht, dass die Fünfte Republik ausgedient hat, sie müsste nur modernisiert werden. Es stimmt, Zemmour hat versucht, sich als wiedergeborener de Gaulle zu inszenieren, als Mann der Stunde. Aber das läuft völlig dem entgegen, was de Gaulle sich vorstellte. Als französischer Präsident kann man nicht von Provokationen leben wie Zemmour, das ist eine ernste Angelegenheit.

Viele Kandidaten betonen, sie hätten mit Politik und Parteien nichts am Hut. Ist das ein Problem des Systems?

So wird ja niemand Präsident. Das hat noch nie funktioniert.

Für Macron aber doch?

Nein, Macron hat das Gleiche gemacht wie alle seine Vorgänger, nur sehr viel schneller. Er hat eine Partei geschaffen, um in den Élysée-Palast zu kommen. Er hat dafür ein Jahr gebraucht, bei Mitterrand dauerte es von 1971 bis 1981, bei Chirac von 1976 bis 1985. Hollande und Sarkozy haben das Gleiche gemacht, nur dass sie bereits bestehende Parteien für sich kaperten. Deshalb stimmt es auch nicht, dass sich das Parteiensystem überlebt hat. Vielleicht hat sich die Art und Weise verändert, wie Parteien funktionieren. Aber man kommt nicht an Parteien vorbei, weil sie das demokratische Leben für die Wähler lesbar machen.

Jean-Philippe Derosier, 42, ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Lille. (Foto: Thomas Kirchner)

Nur einer unter den ersten drei Kandidaten, nämlich Macron, will im Rahmen der geltenden Verfassung agieren. Mit Le Pen oder dem Linken Jean-Luc Mélenchon käme die Fünfte Republik nach Ansicht vieler an ihr Ende. Sehen Sie das als Krise an?

Macrons Amtszeit war sehr ungewöhnlich. Er war politisch weitgehend unerfahren. Er wurde eher aus Versehen gewählt. Seine Mehrheit im Parlament bestand aus Abgeordneten, die nicht wussten, wie man Gesetze ändert oder eine Initiative einbringt. Das führte dazu, dass sich die Nationalversammlung dem Präsidenten und seiner Regierung völlig unterworfen hat. Und die Pandemie hat die Exekutive noch zusätzlich gestärkt.

Krise oder keine Krise?

Die würden wir bekommen, wenn Macron nach seiner Wiederwahl so weitermacht wie bisher. In seiner Unerfahrenheit und Arroganz hat er nicht zugehört, was die Franzosen wollen. Bei einer Wiederwahl müsste ihm bewusst sein, dass sein Vorsprung sehr viel geringer wäre als 2017 und die Linke in Gestalt der Wähler Mélenchons sehr viel stärker.

Aber es gibt viele Reformideen, etwa das Parlament zu stärken.

Alles ist möglich. Marine Le Pen will eine Referendums-Revolution machen, was meines Erachtens ein Staatsstreich wäre. Sie will per Referendum eine vorrangige Behandlung für geborene Franzosen verankern, ohne die beiden Parlamentskammern damit zu befassen. Das lässt die Verfassung nicht zu. Man kann das natürlich machen, auch wenn man nicht das Recht dazu hat. So wie man einen Terroranschlag verüben kann, ohne es zu dürfen. Ich nenne Le Pen deshalb auch Demokratie-Terroristin. Am Ende kann der Verfassungsrat so ein Referendum stoppen.

Dann würde man also eher auf eine große Blockade zusteuern.

Ja. Aber man könnte die Verfassung durch eine Überarbeitung ändern. Das will Macron. Er möchte das Parlament schwächen, indem er die Zahl der Parlamentarier reduziert. Macron möchte auch für einen Teil der Abgeordneten das Verhältniswahlrecht einführen. Ich halte das nicht für demokratischer als unser geltendes Mehrheitswahlrecht. Erinnern Sie sich an die Wahl in Deutschland 2017? Die SPD hatte vorher ausgeschlossen, wieder mit der CDU zu regieren. Und hinterher hat sie es doch getan. Das Mehrheitswahlrecht zwingt dazu, solche Vereinbarungen vor der Wahl zu treffen. Ja, das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative sollte besser austariert werden. Aber nicht, indem wir die Direktwahl des Präsidenten abschaffen, denn daran hängen die Franzosen sehr. Das Parlament könnte mehr Macht bei der Gesetzgebung erhalten, etwa indem man der Exekutive das Recht nimmt, verabschiedete Gesetze noch in ihrem Sinne zu verändern.

Marine Le Pen hat es jetzt zum zweiten Mal in die Stichwahl geschafft, wird aber wegen des Mehrheitswahlrechts vermutlich kaum Abgeordnete in der Nationalversammlung unterbringen. Ist das nicht ungut auf Dauer?

Eine Eigenart des Verhältniswahlrechts ist, dass es zu Koalitionen zwingt, zu Verabredungen zwischen den Parteien. Doch es wird vor allem von den extremen Parteien links und rechts eingefordert, die dazu nicht in der Lage sind. Es würde ihnen beim Regieren nicht helfen, wenn die Sitze nicht mehr nach Mehrheitswahlrecht vergeben würden.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusWahlen in Frankreich
:Fanklubs statt Parteien

Frankreichs neue Parteien personalisieren die Politik, sie sollen den Mann oder die Frau an der Spitze an die Macht bringen. Alles andere kommt später. Was das für die Politik bedeutet - und für das Vertrauen der Menschen.

Von Nadia Pantel

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: