Lehrstück Erster Weltkrieg:Hundert Jahre Unsicherheit

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Wien im Sommer 1914: Österreichische Reservisten marschieren während der Mobilisierung jubelnd durch die Hauptstadt der Donau-Monarchie. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Nationalismus, Hegemonie, ungleicher Wohlstand: Die bösen Geister von 1914 sind noch oder wieder da. Von Nordafrika bis zur Ukraine ist Europa umgeben von einem Ring instabiler bis kriegerischer Regionen. Warum lässt uns der Erste Weltkrieg nicht los?

Essay von Stefan Kornelius

Man kann sagen, dass die Jahrhunderterinnerung an den Ersten Weltkrieg gerade zur rechten Zeit kommt. Nicht zu früh, nicht zu spät, sondern punktgenau eben jene einhundert Jahre später, die wohl vergehen müssen, um Geschichte auf sicherem Abstand zu halten - und dennoch ihren heißen Atem zu spüren.

Diese Geschichte steckt den Europäern in den Knochen, ganz besonders den Deutschen. Wenn sie sich nun erinnern, wenn sie über wachsenden Nationalismus lesen, über zerfallende Imperien, über Bündnisse und Machtphantasien, über den Sog des Verderbens, dann stellt sich jener Schauder ein, den die Geschichte für alle Nachgeborenen bereithält: Ist da wirklich schon alles abgelegt in den Büchern? Alles verwahrt in sicherer Distanz zu den aufgeklärten Geistern von heute?

Politik folgt Stimmungen, der Masse, manchmal dem Wahn

Die ernüchternde Antwort ist: Nein. Das Jahrhundertgedenken entfaltet deshalb seine verstörende Wirkung, weil auch heute noch dieselben Kräfte zu spüren sind wie 1914.

Geschichte lebt vom Vergleich, den Botschaften, die sie - bis auf die Knochen - zu transportieren vermag. Menschen spiegeln sich in ihrer Geschichte, sie studieren Fortschritt und Rückfall, wägen Vorteile und glauben alte Fehler vermeiden zu können. Aber das ist nur die Theorie.

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Tatsächlich steckt das Leben voller Irrtümer und Fehldeutungen der Geschichte, falscher Entscheidungen und irrer Wahrnehmungen. Politik entsteht nicht im Gelehrtenkämmerchen. Sie folgt Stimmungen, der Masse, manchmal dem Wahn.

Die Geschichte vom Ersten Weltkrieg ist ein ganz besonderes Lehrstück, weil sie einhundert Jahre später nachhallt. Europa befindet sich noch immer in derselben Echokammer, in der auch David Lloyd George saß, als er 1936, keine zwanzig Jahre nach dem Großen Krieg, seine Erinnerungen formulierte. Lloyd George war ein großer Staatsmann, Schatzkanzler der Briten bei Kriegsbeginn und ihr Premierminister an dessen Ende.

In der Ahnung der heraufziehenden, noch größeren Katastrophe, reduzierte er sein zweitausendseitiges Kompendium über den Ersten Weltkrieg auf eine schlichte Formel: "Krieg ist eine viel zu kostspielige und barbarische Angelegenheit, um damit die Streitigkeiten unter den Nationen der Erde zu lösen."

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Hat Europa die Lebenserfahrung von Lloyd George heute verinnerlicht? Ist der Krieg tatsächlich undenkbar geworden? Krieg ist die traumatische Bindungserfahrung Europas, Krieg ist die Konstante im vielhundertjährigen Gewissen des Kontinents. Lloyd George entstammte einer Politikergeneration, die den Krieg als Möglichkeit immer denken musste.

Sebastian Haffner, der den Deutschen ihre Geschichte gleichsam am lebendigen Leib sezierte, erinnerte in einem seiner Bücher an die Selbstverständlichkeit, mit der in den Jahren vor 1914 die Kaste der Militärs und auch der Politiker Krieg als Werkzeug ihrer Arbeit ansahen.

Noch ein Jahrhundert später klingt der Lärm der Echokammer von 1914 nach. Die Motive kehren wieder: der Zerfall staatlicher Autorität, der aufkeimende Nationalismus, der ewige Kampf um die Machtbalance. Wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ringen Europas Gesellschaften auch heute mit einer neuen Welle der Industrialisierung (diesmal der digitalen), mit wuchtigen, internationalen Finanzströmen, dem unbändigen Wunsch nach Frische und Aufbruch.

Rastlosigkeit treibt die Politik, Sicherheiten gehen verloren. Wie vor einhundert Jahren sind die politischen Führungsfiguren der Verlockung des Nationalismus ausgesetzt, suchen nach Identität in selbst gezogenen Grenzen - ob auf der Krim, in Schottland oder Katalonien. Sie hoffen auf Klarheit und Überschaubarkeit in einem scheinbar überregulierten Kontinent.

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Wie vor hundert Jahren klopft der Krieg an die Pforten Europas. Von Nordafrika bis zur Ukraine ist Europa umgeben von einem Ring instabiler bis kriegerischer Regionen.

Der Erste Weltkrieg schuf den Boden für die Totalitarismen, die Europa die längste Phase des 20. Jahrhunderts fesseln sollten: den Faschismus und den Kommunismus. Er bildete die Ouvertüre zu der noch größeren Katastrophe, die sich schon nach Kriegsende 1918 abzeichnete.

Aus den Trümmern zerstörter Herrscherhäuser und zerfallender Imperien, aus überkommenen Machtstrukturen und unfertigen neuen Systemen erwuchs die nationalsozialistische Gewalt, die Europa vollständig in Schutt und Asche legen sollte.

West gegen Ost - das Leidens-Motiv für Unfrieden

Selbst als die Totalitarismen verklungen waren, endgültig verzehrt mit der Niederlage des Kommunismus im Kalten Krieg, mussten die Europäer entsetzt feststellen, dass die Geister von vor hundert Jahren nicht gebannt waren. Auf dem Balkan zogen die Menschen in den Neunzigerjahren mit Blut neue Grenzen, die schon hundert Jahre zuvor keinen Frieden garantieren konnten.

In Nordafrika und Nahost schliffen wachsender Wohlstand, steigende Religiosität und Terrorismus die Strukturen, die der Kolonialismus quasi als letzten Gruß hinterlassen hatte. Und wie eine zynische Mahnung an die Erinnerungsindustrie entzündete sich pünktlich zum Jahrhundertgedenken die Ukraine-Krise - in ihrem Kern ein klassischer Konflikt um Einflusszonen und Selbstbestimmung; ganz tief aber auch ein europäischer Ur-Konflikt an einer Bruchlinie, die über Jahrhunderte hinweg von Religion, Sprache und Kultur gezogen worden ist. West gegen Ost - das Leidens-Motiv für den Unfrieden in Europa.

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Der politische Kalender hielt 2014 aber auch diese positive Botschaft parat: Im Gedenk-Jahr 2014 waren die meisten Europäer aufgerufen, ihre Stimme für das wohl wichtigste Friedensprojekt abzugeben, das sie sich je geschaffen haben - die Europäische Union.

Die Wahl zum Europaparlament erinnerte sie daran, wie mühsam es ist, in ihren Grenzen für Frieden zu sorgen. Die Gemeinschaft der Staaten, hervorgegangen aus der deutsch-französischen Montanunion und noch längst nicht vollendet mit der letzten Erweiterungsrunde 2013, hat verstanden, dass ihr Frieden nur dann sicher ist, wenn sie die Lehren von 1914 auch beherzigt.

Und die heißen nun mal: Der Nationalismus und die ungleiche Verteilung von Macht und Wohlstand führen Europa ins Verderben. Deswegen musste die Europäische Union in ihrem Wesen eine Gemeinschaft zur Nivellierung von Macht und zur Gleichverteilung von Chancen sein.

Der Erste Weltkrieg war deshalb auch die Geburtsstunde dieser europäischen Gemeinschaftsbewegung, die es sich zum Ziel setzte, die immer selben Kriegsauslöser zu bannen. Und das sind nun mal Geografie und Ideologie. Geografie: Das stets zu starke und ruhelose Deutschland in der Mitte des Kontinents, der derzeit wieder viel beschworene Semi-Hegemon, zu klein, den Kontinent zu dominieren, zu groß, sich unbeobachtet ins Gefüge der Nationen einzureihen.

Ideologie: der Wettbewerb um die gerechte Staatsform, bei dem sich zunächst in Westeuropa, dann im Süden, später in der Mitte die Demokratie durchsetzte - allerdings nur mithilfe der USA und der Kräfte der freien und sozialen Marktwirtschaft.

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Gebannt sind die bösen Geister damit nicht, wie die Debatte um die Verfasstheit Europas, die Rolle seines Parlaments oder etwa die Währungskrise zeigen. Nicht zuletzt diese Währungskrise hat wieder einmal den Hegemon in der Mitte des Kontinents auferstehen lassen.

Unvermittelt ist er also wieder zu spüren, dieser heiße Atem der Geschichte; da erklingen sie wieder, die unheilvollen Motive der europäischen Geschichte. Wer heute behauptet, die Europäische Union lasse sich nicht mehr mit dem Wunsch nach Kriegsvermeidung begründen, der hat die Geschichte nicht verstanden. Die nämlich lässt sich nicht ablegen wie ein zerfetzter Mantel. Auch hundert Jahre später nicht.

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© SZ vom 26.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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