Dafür, dass es sich bei der Gottfried-Röhl-Grundschule in Berlin-Wedding um eine Schule in schwieriger Lage handelt, wie das im euphemistischen Amtsdeutsch heißt, ist es hier verdammt idyllisch. Ein paar würfelförmige Gebäude, Pavillons genannt, umringen locker einen ovalen Innenhof, in dem prachtvolle Platanen Schatten spenden und kreischende Kinder sich um Tischtennisplatten jagen. Vögel zwitschern, vom Spielplatz her riecht es nach Rindenmulch. Der einzige Punkt, der hier brennt, ist an diesem Junitag die Sonne.
Erst wenn man genauer hinschaut, erkennt man Rost und Risse. Die Gebäude stammen aus den Sechzigern, und man merkt ihnen an, dass sie seitdem nicht saniert wurden. Der Boden in der Schulkantine verrät, dass sie das Thema Reinigung hier nicht in den Griff kriegen, obwohl sie schon zwei Mal die Putzfirma gewechselt haben. Und dass die Schule von einem mannshohen Zaun umgeben ist und Schüler klingeln müssen, wenn sie zu spät kommen, ist auch kein Zufall. Immer wieder steigen nachts Leute ein, erzählt Almut Mohrmann, die Schulleiterin. Einmal sind sie bis in ein Klassenzimmer gekommen und haben das Whiteboard mit Messern "bearbeitet".
Almut Mohrmann ist 58, trägt eine zartrosa Brille und strahlt die fröhlich-bestimmte Unverwüstlichkeit aus, die viele Schulleiterinnen auszeichnet. Ihr Büro liegt im ersten Stock, auf dem Tisch stehen Schüsseln voller Kirschen und Sahnebonbons. Bevor das Gespräch beginnt, klingelt Mohrmanns Telefon. "Oh, wäre das schön", flötet sie in den Hörer. "Was ich mir in den letzten Jahren alles zusammenleimen musste!" Mohrmann legt auf, schaut den Besucher triumphierend an und verkündet: "Einstellung!"
Womit wir mittendrin wären im Thema.
Die Schulen müssen viele Probleme bewältigen, die man - Stichwort Euphemismus - gerne Herausforderungen nennt. Jedem einzelnen Kind gerecht zu werden, seine Schwächen zu erkennen und Stärken zu fördern, ist die Generalherausforderung, die wie ein Dach all die Spezialherausforderungen überwölbt: die Integration von Kindern, die zu Hause kein Deutsch sprechen; die Inklusion. Zwei Riesenherausforderungen sind zuletzt unerwartet dazugekommen: Corona - und mindestens 140 000 ukrainische Kinder und Jugendliche.
Schulen:Wie Corona den Lehrermangel verschärfen könnte
Viele Lehrkräfte fühlen sich nach zwei Jahren Pandemie erschöpft, jede achte will einer Umfrage zufolge weniger arbeiten. Dabei fehlt den Schulen schon jetzt Personal. Muss der Staat die Teilzeitregeln verschärfen?
Vorschläge, was zu tun wäre, gibt es viele. Man müsse den Unterricht individueller gestalten. Klassen verkleinern. Den Ganztag stärken. Schulen in schwieriger Lage entlasten. Corona-Folgen aufarbeiten. Den Kindern aus der Ukraine schnell Deutsch beibringen. Doch wenn es um die Umsetzung geht, dann landet man früher oder später beim gleichen Problem: Es bräuchte mehr Lehrerinnen und Lehrer. Doch die gibt es nicht.
Der Lehrermangel - mehr noch als fehlendes Geld - ist das Loch, in dem bildungspolitische Ambitionen reihenweise versinken. Es ist ein Loch, das die Bundesländer selbst gegraben haben. Über Jahre haben sie nicht so viele Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet, wie an den Schulen gebraucht werden. Die Kultusministerkonferenz (KMK) rechnet mit einer Lücke von 20 000 Lehrkräften im Jahr 2025 und 14 000 im Jahr 2030. Experten glauben, dass es noch viel schlimmer wird.
"Wir dürfen in dieser Debatte jetzt keine Tabus mehr haben"
Die Kultusminister wollen sich nun "verstärkt auf die Lehrkräftegewinnung und Lehrkräftequalifizierung konzentrieren", wie Karin Prien (CDU), Kultusministerin in Schleswig-Holstein und derzeit KMK-Präsidentin, jüngst verkündete. Das beteuern die Länder zwar seit Jahren, doch zumindest der Ton klingt, als meinten sie es nun wirklich ernst. "Angesichts der demografischen Entwicklung ist es absehbar", sagte Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD), "dass es auch mit großen Anstrengungen nicht gelingen kann, mittel- und langfristig genügend Lehrkräfte zu finden."
Die Länder, sagte Rabe, müssten auch unkonventionelle Wege gehen. Der Quer- und Seiteneinstieg von Bewerbern, die kein Lehramt studiert haben, gehöre ebenso dazu wie die Entlastung von Lehrkräften durch Erzieher oder Sozialpädagoginnen. Auch müsse man darüber nachdenken, Lehrkräften aus dem Ausland den Zugang zum deutschen Schulsystem zu erleichtern oder die unter Lehrkräften hohe Teilzeitquote zu senken. Ins Detail ging Rabe nicht, damit ist nun die wissenschaftliche Kommission der KMK beauftragt. Karin Prien sagte: "Wir dürfen in dieser Debatte jetzt keine Tabus mehr haben."
Wie so eine kreative Mangelverwaltung in der Praxis aussieht und was dabei auf der Strecke bleibt, weiß wohl kaum jemand besser als Almut Mohrmann. Die Gottfried-Röhl-Grundschule verzeichnete kürzlich unter den vom Lehrermangel ohnehin besonders geplagten Hauptstadtschulen einen traurigen Rekord: Im Schuljahr 2019/20 waren 36 Prozent ihrer 45 Lehrkräfte Quereinsteiger - mehr als an jeder anderen Schule in Berlin. Quereinsteiger meint hier Leute, die kein Lehramt studiert haben, aber ein Fach, das an der Schule unterrichtet wird. Das Lehramtsstudium holen sie in einer abgespeckten Version nach, während sie schon vor der Klasse stehen.
Wobei das nur die halbe Wahrheit ist, sagt Almut Mohrmann. 36 Prozent, das waren nur die Quereinsteiger. Zählt man noch Erzieherinnen, Studierende und Seiteneinsteiger dazu - Lehrkräfte, die gar kein Schulfach studiert haben -, kommt sie auf mehr als 50 Prozent. Mehr als die Hälfte der Lehrkräfte, die die knapp 500 Kinder unterrichteten, waren also nicht dafür ausgebildet. "Das war ein hartes Schuljahr", sagt Mohrmann. "Wie wollen Sie ein zukunftsweisendes Unternehmen aufbauen mit über 50 Prozent Lehrlingen?"
Der Fachkräftemangel im Klassenzimmer bringt zwei Arten von Lücken hervor. Die sichtbaren, wenn Vertretungsstunden nicht mehr unterrichtet oder Fächer gestrichen werden, weil der zuständige Kollege in den Ruhestand geht. Gerade in Berlin dürfte das in Zukunft weiter zunehmen, im kommenden Schuljahr können mehr als 900 Stellen nicht besetzt werden. Und es gibt die notdürftig gestopften Lücken. Die Stundenpläne sind voll, aber eben nicht mit dem Personal, das da eigentlich sein sollte. Diese Mangelerscheinung dürfte sogar noch stärker zunehmen. Es gibt ja nicht nur eine Schulpflicht, sondern auch ein Recht auf schulische Bildung, vom Bundesverfassungsgericht unter dem Eindruck der Corona-Krise erstmals ausformuliert. Wer diese Bildung vermittelt, steht da allerdings nicht.
Wie groß der Schaden ist, der so entsteht, ist umstritten. Quereinsteiger absolvieren in Berlin zwar ein verkürztes Studium, aber dafür bringen sie etwas mit, was manchen klassisch ausgebildeten Lehrkräften fehlt: Lebens- und Berufserfahrung jenseits der Schule. An der Gottfried-Röhl-Schule etwa unterrichten ein Architekt, eine Chemikerin, ein Bauingenieur. Doch Almut Mohrmann ärgert sich trotzdem "tierisch", wenn ihr Politiker den Quereinstieg als Bereicherung verkaufen wollen. Bei Einzelfällen, sagt sie, mag das stimmen. Bei 36 Prozent sei es nichts anderes als ein Qualitätsverlust.
Kurzfristig sowieso, weil Mohrmann den Unterricht in dieser Zeit mehr daran ausrichten musste, wie die jungen Kollegen Erfahrung sammeln können, als daran, was das Beste für die Kinder wäre. "Das war unser Überlebensmodus", sagt sie. Aber auch langfristig. Es ist ein Punkt, wo sie mit sich ringt, weil es auch unter den Quereinsteigern Naturbegabungen gebe und unter den Lehramtsabsolventen ewige Talente. Doch das Lehramtsstudium sei einfach die bessere Ausbildung. Weil es angehenden Lehrern mehr Zeit für die Fächer lässt und mehr Zeit für die Frage, wie Unterricht gelingen kann.
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Doch dieser Qualitätsverlust trifft nicht alle Schulen gleichermaßen. Er trifft vor allem Grund- und Förderschulen, Schulen in schwieriger Lage, Schulen, die eigentlich die besten Lehrer bräuchten. Schulen wie die Gottfried-Röhl-Grundschule. Sieben Berliner Schulen hatten 2019/20 einen Quereinsteiger-Anteil von mehr als 30 Prozent, alles Grundschulen in schwieriger Lage.
Warum das so ist, das hat Almut Mohrmann bei dem berüchtigten Casting erlebt, das regelmäßig in Berlin stattfindet. In einer Art Speed-Dating treffen bedürftige Schulleitungen auf Lehramtsabsolventen und Quereinsteiger. Drei Minuten stellen die sich vor, dann müssen die Schulleitungen entscheiden, wen sie gerne einstellen würden, unbefristet. "Wie auf dem Viehmarkt", sagt Mohrmann. Wenn sie dabei mit anderen Schulen um Bewerber konkurriert, hat sie häufig das Nachsehen. Weil Lehrer, die die Wahl haben, sich im Zweifel für die Schule entscheiden, wo sie weniger Stress erwarten - und nicht für die Schule im Brennpunkt. "Die Kinder dort", sagt Mohrmann, "müssen es doppelt und dreifach ausbaden, dass dieses Schulsystem so ungerecht ist."
"Um für die Schulen vorauszuplanen, müsste man eigentlich in Jahrzehnten denken"
Berlin versuchte mit einer Brennpunktzulage, Lehrer in schwierige Lagen zu locken. Doch das hat wenig gebracht. "Geld ist nicht alles", sagt Mohrmann. Sie hätte andere Ideen, wie sich die Lage verbessern ließe. Zum Beispiel ein Pflichtpraktikum in Brennpunktschulen für angehende Lehrer. Weil sie überzeugt ist, dass die Berührungsängste schnell verfliegen, sobald die Leute mal da sind. Und klar, genügend Lehrkräfte ausbilden würde auch helfen; wie viele Kinder in die erste Klasse kommen und wie viele Lehrer in Rente gehen, ist ja Jahre vorher absehbar. "Um für die Schulen vorauszuplanen, müsste man eigentlich in Jahrzehnten denken", sagt Mohrmann. "Aber die Politik schaut nur bis zur nächsten Wahl."
Die Gottfried-Röhl-Grundschule immerhin ist aus dem Gröbsten raus, fürs Erste. Die Quereinsteiger von vor drei Jahren sind fertig, die Quote ist auf knapp 20 Prozent gesunken, damit kann Almut Mohrmann arbeiten. Nur ein Problem ist dazugekommen, das in gewisser Weise auch ein Erbe des 36-Prozent-Jahres ist. Wo viele junge Menschen arbeiten, häufen sich nicht nur die Herausforderungen, sondern manchmal auch die guten Hoffnungen. Sechs Lehrerinnen haben sich allein in diesem Schuljahr abgemeldet, weil sie schwanger sind. Die Familienplanung scheint in Berlin besser zu laufen als die Lehrkräftebedarfsplanung.